Gäubahn 2024 (ext. version)
Ich bin nicht nur ein Heimatschwindler, sondern gleichermaßen ein reisender Stubenhocker. Im Bahndeutsch falle ich damit offiziell unter den Sammelbegriff „Transportmasse“. Zugdeutsch ist absolut rätselhaft. Was zum Beispiel ist ein „Unterwegsbahnhof“? Kann man den jemals erreichen, wo er doch dauernd unterwegs ist? Geradezu begeistert hat mich im Saarbrücker Hauptbahnhof die Herrentoilette: „Urinal 25 Cent, mit Händewaschen 40 Cent.“ Das war freilich vor Corona. Heute sind es sicher 80 Cent.
Am Freiburger Hauptbahnhof erfreut den Reisenden ein kleines Täfelchen: „Vorsicht Zugverkehr.“ Was für eine Überraschung in einem Bahnhof! In Koblenz warnt ein Schild: „Ende des Bahnsteigs. Bitte nicht weitergehen!“ Die Koblenzer müssen eigens darauf hingewiesen werden.
Der Schwarzwälder Bote titelte Mitte Oktober 2024: „Gäubahn – Gäste brauchen Geduld.“ Also wenn sie die bisher nicht entwickelt haben, wird das nichts mehr in diesem Leben. Gäubahn – ich tue mich schon schwer mit dem Namen. Da denken die in Berlin bestimmt: Gäubahn? Das ist irgendsoeine kleine Nebenstrecke, die können wir gerade vergessen. Verdammt – von Stuttgart bzw. Rottweil fuhren dermaleinst Züge bis Milano Centrale! Ich hätte nie gedacht, dass ich mal den Cisalpino vermisse. Eine Conducteurin der SBB beliebte sich damals so auszudrücken: Am Anfang habe man ja noch gedacht, das seien alles Kinderkrankheiten, diese seien aber gleich in die Altersschwäche übergegangen. Im März 1998 hat man den Cisalpino mit einigem Pomp am Hauptbahnhof Zürich vorgestellt und geprahlt, man könne damit 17 Minuten eher in Stuttgart sein. In Stuttgart? 17 Minuten? Wow! Nur: Wozu?
Das Bahnschweizerisch unterscheidet sich vehement vom Bahndeutsch, aus „Die Fahrausweise, bitte!“ wird „Alle Billette vorweisen“, und deutsche Orte werden anders betont: Rottweil. Rätselhaft auch, warum die Schweizer stets vom Zugsteam sprechen, die Deutschen haben das Binnen-S wohl wegrationalisiert. Die Schweizer sagen: „Wir treffen in Pfäffikon ein!“ Das hat etwas Schicksalsergebenes, ja, endgültiges, vor allem bei Pfäffikon. Die Deutschen sagen: „Wir befinden uns in der Anfahrt auf Tuttlingen“, da schwingt Hoffnung mit, womöglich noch während der Anfahrt auf Tuttlingen liegen zu bleiben. Anfahrt kann auch bedeuten: Wir steuern Tuttlingen zwar an, halten aber heute vielleicht doch nicht. Wie dem auch sei: Hauptsache, kein Tuttlingen! (Und schon gar kein Pfäffikon. Pfäffikon, Schwyz).
Es ist nicht so, dass die Deutschen keine Wunderlichkeiten zum Streckenverlauf beizutragen hätten, die häufige Eingleisigkeit beispielsweise, die den Franzosen zu verdanken ist, die das zweite Gleis nach dem Krieg rausgerupft haben, um damit die Infrastruktur auf Madagaskar zu verbessern. Gut, die Strecke zwischen Ulan-Ude und Peking kommt auch mit einem Gleis aus. Wo hat man das schon, dass heutzutage Züge vom Kaliber IC auf Gegenzüge warten müssen?
Nach dem CIS ging es immer weiter bergab. Bis hin zu Stuttgart 21. Moment: Auch schon drei Jahre her … Stuttgart 26 also. Oder 27. Bis 29. Whatever. Vom Kopfbahnhof zum Sackbahnhof, eine unterirdische Geschichte. Dem Bahnhof droht der „Unter“gang. Stuttgart soll tiefer gelegt werden, eine Landeshauptstadt mit Tiefgang. Es soll sogar geheime Pläne geben, ganz Stuttgart unter die Erde zu legen, um dann oben eine komplett neue Stadt zu bauen, z. B. Pforzheim II. Offiziell soll der neue Stadtteil Rosensteinquartier heißen. Ob daraus was wird, steht in den Sternen, denn eigentlich dürfen keine Schienen wegen einer Bebauung rausgerissen werden. Die Gemengelage gestaltet sich schwierig. Bis zum heutigen Tag verkehren am Stuttgarter Bahnhof nur taktische Winkelzüge, allerdings mit der üblichen Verspätung.
Ich habe mir gedacht, wenn ich mal in Rente bin, habe ich endlich mehr Zeit, besser zu schreiben, mehr Zeit für Recherche, mehr Zeit zum Feilen am Text. Aber man merkt es schon an diesem Beitrag: Hat nicht geklappt. Allein um hierher zu kommen, mit der Bahn versteht sich: Dafür benötige ich Fahrkarten. Also aufs Portal der DB. Da muss ich zunächst Cookies zulassen. Dafür geht eh die meiste meiner Restlebenszeit drauf: Cookies zuzulassen.
Wenn ich Glück habe, darf ich zunächst die Bilder anklicken, auf denen ein Bus zu sehen ist. Ein Bus? Wieso nicht eine Lokomotive? Schienenersatzverkehr, nehm ich mal an.
Dann: Log-In Privatkunden. Click.
Dann: Angemeldet bleiben. Click. Funktioniert nie, never fucking ever. Schon beim nächsten Versuch bin ich nicht mehr angemeldet. Egal. Click.
Ich bin ein Mensch. Click. Obwohl: Bei der Bahn fühle ich mich allmählich wie ein Roboter. Click. Anmelden. Click.
Hinweis: „Sie sind nicht mehr im System angemeldet. Bitte beachten Sie, dass Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit automatisch abgemeldet werden, wenn Sie das System längere Zeit nicht benutzen.“ Okay. Das waren etwa fünf Sekunden. Click.
Sie haben sich erfolgreich abgemeldet. Click. Login Privatkunden. Click.
Tickets kaufen. Click.
Ja toll, schon bin ich da, wo ich hinwollte. Wie sagte neulich eine junge Frau im Großraumabteil? „Das dauert voll ewig!“ Da haben wir noch lang nicht über die Beförderung gesprochen. Von mir aus könnten sie bei der Bahn die Dose mit den Cookies: Zulassen. Die gehen mir so was von auf den Keks.
Wenn ich für die Strecke Rottweil-Oberndorf – Fahrtzeit zehn Minuten – den Flexpreis in der ersten Klasse buche, habe ich freien Zugang zur DB-Lounge. Tolle Sache, wenn es auf der ganzen Strecke nur eine einzige DB-Lounge gäbe.
So verbringe ich also meine Zeit. Clicke ich noch richtig? Wie soll ich denn da noch einen ordentlichen Text zustande bringen? Die Menschen werden immer älter, heißt es. Die Zeit brauchen wir aber auch, allein schon, um Cookies zuzulassen. Vor allem bei einem Unlogistikunternehmen wie der Bahn. Den Älteren ist bestimmt noch die Redewendung „Höchste Eisenbahn“ geläufig. Heute sind wir bei „Tiefste Eisenbahn“ angelangt. Also erstmal. Hoffentlich.
Bahnhass? An dem Thema habe ich mich schon in den Neunziger und Nuller Jahren abgearbeitet, ich dachte, damit wäre ich durch. Das war aber nur ein harmloser Vorgeschmack auf das, was derzeit abgeht. Bzw. eben nicht abgeht. Der Bahnhass damals hat mich wohin gebracht? Schon ans Ziel, aber nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt, und randvoll mit negativer Energie. Wenn du glaubst, mit einer Übergangszeit von dreißig Minuten ein Recht auf einen Anschluss hast – selbst schuld. Fahr halt früher los, du Honk!
Ich will das eigentlich gar nicht, ich schwör! Das ist so billig, sich über die Bahn aufzuregen. Ich liebe die Bahn, echt. Es gibt keine Alternative. Ich bin ausgewiesener Schimpfgegner. Trotzdem muss es gemacht werden. Falls ich mich mal unterversorgt fühle mit E-Mails – eine Bahnreise schafft Abhilfe. Beispiel: Um elf Uhr bin ich in Singen losgefahren. Zwei Stunden später finden sich schon zehn Mails in meinem Account bzgl. Verspätungen und nicht zu erreichenden Anschlüssen, was zwischendurch mal kurz aufgehoben und dann wieder bestätigt wird. Die Hälfte aller Mails: Fehlinformationen. Immer mehr Lokführer steigen aus. Aus dem Zug. Früher hatten höchstens mal die Heizer einen Burnout. Das nennt man dann: Lok down. Jetzt kann man natürlich sagen: Die Bahn versorgt einen mit einem Quäntchen Chaos in einem zugetakteten Leben, lasset uns dankbar sein für einen Crashkurs Fatalismus. Man darf die Extrazeit sinnvoll nutzen, kontemplative Momente genießen. Habe ich alles gemacht. Am Ende war immer noch Extrazeit übrig. Ich habe mich Jahrzehnte lang in Geduld geübt. ICH KANN JETZT GEDULD!
Wenn man der Deutschen Bahn so zuschaut: Das ist Sterbebegleitung. Okay, nicht weinerlich werden. Schließlich habe ich mich bewusst für die Bahn entschieden. In Deutschland ist die Transformation zum Nichtöffentlichen Verkehrsmittel noch nicht ganz abgeschlossen. Schon mal den Namen Wagenknecht gehört? Wenn ihr Pech habt: Ja. Eigentlich passt der besser auf unseren aktuellen Verkehrsminister. Und auf sämtliche davor – alles Wagenknechte. Wahre Meister der Auto-Suggestion. Für viele ist Bahnfahren nichts anderes als eine permanente bahntraumatische Belastungsstörung. Ich bin regelmäßiger Kunde seit 1796. Es ist jedes Jahr ein bisschen schlimmer geworden. Im Jahr 2023 befindet sich dieses Unternehmen im freien Fall. Kauft besser einen Diesel und verpestet weiter die Luft, damit die Welt schneller untergeht, denn das scheint mir das Beste zu sein, was diesem Planeten widerfahren kann.
Richten wir lieber den Blick auf das Positive: Die Bahn bemüht sich redlich und kommt ihren Kunden in vielen Bereichen entgegen: Ein Beispiel aus dem August: Die Fahrkarte von Rottweil nach Freiburg kostet 15.85 Euro. Stornieren kann ich sie bis einen Tag vor der Reise kostenfrei. Danach, also am Abreisetag, ist eine Stornierung gegen Entgelt von 17.50 Euro möglich. Das nenne ich ein attraktives Angebot, danke.
Nur wer Distanz zu technischen Unzulänglichkeiten wie nicht schließenden Türen gewinnt, kann sich öffnen. Man reduziere seine nichtigen Bedürfnisse – Klimaanlage, Heißgetränke – und beugt so Enttäuschungen vor. Die Bahn vertritt konsequent einen ganzheitlichen Ansatz. Nicht nur für die Seele wird gesorgt, auch für den Körper: Der Zug verkehrt in umgekehrter Reihenfolge? Ein kostenloses Angebot zu sportlicher Betätigung. Also flugs das Gepäck gerafft und im Slalom ans andere Ende des Bahnsteigs geeilt. Das fördert die Rechts-Links-Koordination und hält fit, vor allem, wenn die Änderung erst zwei Minuten vor Einfahrt des Zuges bekannt gegeben wird – also praktisch immer. Für Gepäckstücke sind die Waggons sowieso nicht gedacht: Was bedeutet das für den erfahrenen Reisenden? Ballast abwerfen. Der Weg ist der Weg. Making by doing.
Das Leben im Allgemeinen ist nicht perfekt, wieso soll es ausgerechnet die Bahn sein? Nicht zu unterschätzen das Humorpotential der Ansagen, die dem Reisenden zu einem befreienden Lachen verhelfen kann: „Geschätzte Fahrgäste, wie Sie vielleicht bemerkt haben, haben wir vergessen, in Walldorf zu halten.“ Toll auch der Zugbegleiter, der aus der Führerkabine trat, das Abteil überschaute und vor sich hinmurmelte: „So, da gehen wir mal ein paar Radfahrer ärgern!“
Manchmal ist der Zug, der heute pünktlich zu verkehren scheint, bloß der von gestern. Für manche Panne entschädigt uns die Bahn mit einem nie versiegenden Quell von Erklärungen, Durchsagen, Dramoletten, ja: Kurzhörspielen bisweilen: „Meine Damen und Herren, wir erreichen Mannheim heute sieben Minuten früher. Bitte nicht weitersagen, die Deutsche Bahn hat einen schlechten Ruf zu verlieren!“ (Originalton West)
Tatsächlich ist es so: Die Bahn stellt mich stets ins Gleis. Was anderswo für teuer Geld als Downsizing verkauft wird, praktiziert die Bahn längst. Das Essen im Bordbistro will nicht kommen? Das ist slow-food im wahrsten Sinne des Wortes. Außerdem ist man eh wohlgenährt. Die Bahn ist nicht nur für Wellnesser geeignet, sondern geradezu ideal zum Auspendeln. Wenn jetzt noch die ICE-Sessel durch Lotussitze ersetzt werden und man dem Dalai Lama die Standardansagen sprechen lässt, dürften sich meine Chakren kaum mehr einkriegen, und mildester Stimmung kann ich einmal mehr in meinem Tagebuch einen Satz der chinesischen Geschwindigkeitsphilosophin Tai Ming notieren: „Die Bahn kann mir keinen Unmut bereiten / Ich hänge mein Herz nicht an Abfahrtszeiten.“
Es gibt natürlich einen Trick, wie man sich sein Bahnleben in Deutschland verschönern kann: Einfach mal länger mit der amerikanischen Bahngesellschaft Amtrak fahren – hinterher erscheint einem Deutschland als bahntechnisches Turbo-Hightech-Wunderland.
Wenn ich’s mir genau überlege, handelt der Text gar nicht vom Groll gegen die Bahn, sondern von meiner Wut auf die Herren Ramsauer, Dobrindt, Scheuer und Mehdorn und auf alle Verantwortlichen, die diese Herren haben gewähren lassen.
Wir bitten alle Reizenden auszusteigen.
© Thomas C. Breuer Rottweil 17.09.2024