Fünfundsechzig Stunden.
Rottweil-London, 2. Dezember 2024
Einer von beiden hat mir von dieser Herrenpartie erzählt, entweder Bänz oder Alex, ein Spiel, ein Konzert, und ich dachte bei mich hin: Och toll, da wäre ich auch gerne dabei, mit der „class of ’22“. Im Dezember 2022 haben wir gemeinsam miterleben müssen, wie der FC Zürich in Schaffhausen (im eigenen Stadion hat man die Frauen nicht spielen lassen) beim Champions-League-Spiel glorios mit 1:9 von Arsenal London zerlegt wurde. Das prägt. Es bedurfte der Intervention meiner Frau, mich dazu zu bewegen, doch einfach zu fragen, ob ich mich den beiden aufdrängen dürfe: „Du willst es doch auch!“ Das wäre ja kein breitbeiniger Männerausflug, schließlich bin ich mit zwei Herren gesetzteren Alters unterwegs, beide Vegetarier und dem Alkoholkonsum eher abgeneigt. (Ohnehin galt im Stadion: „No alholic beverages beyond this point.“) Allerdings werden wir Frauen treffen, Noemi, Naomi, Nadine und die anderen. Gut, richtig treffen werden wir sie nicht, aber wir werden ihnen bei der Arbeit zuschauen, von oben herab, von den oberen Rängen des altehrwürdigen Stadions an der Bramall Lane in Sheffield, dem ältesten der Welt, in dem immer noch professioneller Fußball gespielt wird, beim Länderspiel der Engländerinnen gegen die Schweizerinnen.
Zunächst muss man erst einmal dorthin gelangen. Für mich kommt nur der Schienenweg in Frage. (Flugangst habe ich keine.) Den deutschen Beitrag zur Reise habe ich an den Schluss gestellt, der Artikel soll ja nicht mit einem Spoiler beginnen. Keine Ahnung, wer wem was abgeguckt hat, die Franzosen den Engländern oder umgekehrt, diese saudumme Angewohnheit, das Gleis erst kurz vor Abfahrt bekannt zu geben. Das führt zu dichten Verklumpungen vor den Gleiszugängen, die auch den Querverkehr behindern. Wird die Gleisbelegung jedes Mal ausgelost? Die Zugangsschleusen tragen absolut nicht zur Entflechtung bei, sondern verlangsamen Prozesse. Nur wenn’s arg wird, geben sie die Sperren frei. Am Gare de l’Est, wie ich es schon erleben durfte, ist es generell unentspannter, da mangelt es einfach an englischer Disziplin. Ein Trost: Der Übergang vom Pariser Ost- zum Nordbahnhof bzw. umgekehrt ist denkbar unkompliziert und versorgt einen mit zehn Minuten Pariser Flair (olàlà), und wer noch Zeit für ein großes Bier hat, mag dafür gerne 11 € berappen. Der TGV Richtung Osten bei der Rückreise besteht aus zwei Garnituren, mein Wagen ist der erste ganz vorne und gefühlt irgendwie schon in Strasbourg.
Im Eurostar-Terminal Paris-Nord gebe ich spaßeshalber die Adresse meines Londoner Hotels in Googlemaps ein: 5:30h Stunden mit dem Auto, wobei man da noch keinen Parkplatz hat. 2:38h mit dem Zug, drei Tage zu Fuß, immerhin, ich entscheide mich für den Mittelweg. Der Bio-Wein bei der Kette Exki kostet nur 6,90 € (0,2l), und der Salat mit Rotem Reis, Hummus und Karotten ist köstlich. Im Terminal geht es deutlich relaxter zu als in Brüssel-Midi.
London, Borough of Camden, etwa drei Stunden später.
Das Zimmer im Angus-Hotel verfügt über einen riesigen Wandschrank. Ich korrigiere: Das Zimmer ist der Wandschrank, kaum geräumiger als ein TGV-Klo. Nicht übel für £ 146. Zwei Minuten von hier, näher am Bahnhof dran, bietet The Standard ein Doppelzimmer für £ 649 pro Nacht an – ohne Fenster. Man kann nicht alles haben. Ein „Tiny studio in central location“ ist bei Booking.com auf £ 210 herabgesetzt – von £ 211! Nicht wenige Hotels vermarkten sich mit „Near Harry Potter-Platform“ – was soll das denn bitte schön heißen? Die reisen nur deswegen an? Für ein Foto? Gut möglich, umgekehrt funktioniert das auch, im Zug rascheln viele Reisende mit den Tüten einschlägiger Pariser Marken, die Kundschaft ist offensichtlich nur zum Shoppen durch den Ärmelkanal getaucht. Das Englische kennt ein schönes Wort: Disgusting.
Sheffield, 3. Dezember 2024. Das Spiel.
Das Stadion an der Bramall Lane liegt direkt unter meinem Zimmerfenster, allerdings kann ich keinen Blick hineinwerfen. Dafür aber auf die Fanzone und den roten Teppich für die VIPs. Vor dem Stadion bieten mobile Tempelhändler Schals und andere Fanartikel an. Kaum anders als bei den Herren. Das Stadion ist die Heimat von Sheffield United, der Club spielt in der 2. Liga, obwohl er einem Mann gehört, der auf den Namen Abdullah bin Musaid Al Saud gehört, die müssten eigentlich genug Geld haben. Irgendwas ist da schiefgelaufen. Die Spielstätte ist unbelastet im Gegensatz zu der des anderen Vereins aus der ehemaligen Stahlkocherstadt, wo Sheffield Wednesday spielt: Am 15. April 1989 kamen bei einem Unglück 97 Fans des FC Liverpool ums Leben, 766 wurden verletzt. Leicht mulmiges Gefühl, als wir nach dem Spiel den steilen Weg zum Ausgang herunterstaksen. Wenn jetzt einer stolpert …
Es lohnt sich, die Artikel über die Katastrophe im Netz nachzulesen, vor allem über den Umgang der Behörden damit. All diejenigen, die über den Clubnamen Wednesday rätseln, können ebenda den Grund für die Namensgebung erfahren – der Verein spielt auch an anderen Wochentagen, in der 2. Liga wie der Lokalkonkurrent und gehört dem Thailänder Dejphon Chansiri. Dem Wikipedia-Artikel über Sheffield habe ich aber vor allem entnehmen können, dass ich mich als Deutscher besser bedeckt halte und schon gar nicht die mangelnde Anmut der Stadt bemängele, denn die bloody germans der deutschen Luftwaffe haben hier wie auch in Leeds schrecklich gewütet, das Schicksal von Stahlmetropolen. In Sheffield wurden im Dezember vor 84 Jahren 750 Menschen getötet und 3.000 Häuser zerstört – es waren kaum industrielle Anlagen darunter. Vom leidigen „Krauts“-Thema wird noch zu sprechen sein. Ich bin froh, mit einem Vollschweizer und einem Deutschen, der in der Schweiz wohnt, unterwegs zu sein und einfach auf deren Ticket mitzulaufen. Ich bin eh froh um diese Freundschaften, die ohne das Schweizer Radio nie zustande gekommen wären. (Von 35 Jahren WDR ist z.B. nichts übriggeblieben.)
Sheffield, Stadion an der Bramall Lane, 3. Dezember 2024
Frauenfußball ist eine feine Sache, entbehrt es doch vieler unangenehmer Begleiterscheinungen wie das Abfackeln von Bengalos, das unablässige Bespeuzen des Rasens und Fouls am Fließband. Okay, Fouls gibt es schon, das Spiel der Frauen ist über die Jahre athletischer geworden, körperbetonter. Vor jedem Spiel werden die Fingernägel geprüft. Fachleute wie der Soziologe Gunter A. Pilz meinen allerdings, dass die Frauen in Sachen verbaler Gewalt den Männern deutlich überlegen seien. Da es weniger Foulspiele gibt und die Frauen nicht solche Heulsusen sind wie ihre männlichen Kollegen, fallen die überlangen Nachspielzeiten weg, in denen Spiele in der 98. Minute entschieden werden können. Irgendwann werden sie für die Überlängen Extragebühren verlangen, ihr werdet sehen. Hooligans sucht man vergeblich, die suchen die Anonymität in der Masse, und Masse findet man selten. Wobei: Hier in Sheffield sind es 23.000, für solche Besucherzahlen würde ich Jahre brauchen, am Wochenende zuvor spielten die „Lionesses“ im Wembleystadion sogar vor 80.000 Zuschauern 0:0 gegen die USA. (Während die Schweizerinnen eine 0:6 Klatsche gegen Deutschland kassierten, exgüsi dafür von dieser Stelle.) Weibliche Hooligans gibt es schon, die sind aber mit den männlichen Fans unterwegs.
Aus diesen und anderen Gründen ist Frauenfußball Bänzens Passion. To make the whole story short: Die Schweizer Frauennationalmannschaft zieht sich gegen den Weltranglisten-Zweiten achtbar aus der Affäre und verliert lediglich 0:1 durch ein Tor von Grace Clinton (ManU) in der achten Minute. In Halbzeit zwei argwöhnen wir, dass wir nicht allzu viel zu sehen bekommen werden, liegt das Tor der Lionesses doch direkt vor uns. Weit gefehlt, die Schweizerinnen drehen auf, haben mehr Chancen und Spielanteile und verlieren letztlich unverdient. Schade, dass sie es noch nicht zu einem eigenen Namen gebracht haben wie die englischen Löwinnen. Frauen-Nati tönt nicht so originell, zumal sich das Nati wie „Nazi“ spricht, was für deutsche Ohren befremdlich klingt. Vielleicht sollten sie die heimische Fauna mal nach Tieren durchforsten, die ihrer würdig sind, es müssen ja nicht gleich typisch helvetische wie Gämsen oder Murmeltiere sein, Alpakas oder Tigermücken, ja, nicht einmal zwingend einheimische, Löwinnen findet man in England selten in freier Wildbahn. Bänz schreibt mir dazu wenig später: „Nein, einen Namen wie «Lionesses» haben unsere Frauen nicht, nur im Italienischen heissen die weiblichen Nationaltreams «le Rossocrociate», aber da ist gar keine Tessinerin dabei.“ (Schweizer kennen kein „ß“.) Das Fazit zum Spiel liefert Meriame Terchoun, die in Frankreich beim FCO Dijon spielt: „Die erste Hälfte war haarig, mit der zweiten bin ich happy.“
Del Amitri, Leeds, O2 Academy, 4. Dezember 2024. Das Konzert.
Das bisschen Bühnennebel scheint mir eher eine Pflichtübung zu sein, aber sonst ist alles, wie es sein soll. Der Gitarrist Iain Harvie ironisiert die Figur der Rockrampensau mit wehenden Haaren und lässt keine Pose aus: das Hochziehen und Heruntersausen der Gitarre, den Fuß auf der Monitorbox, ein bisschen Korpusvögeln, nur das Züngeln unterlässt er zu seinem und unserem Glück. Aber es ist offensichtlich: Das meint er nicht ernst. Der Mann ist schließlich 62 Jahre alt. Unaufgeregt und doch aufregend der Rest der Band, unspektakuläres Outfit, ein Ansatz, der mir immer gefällt. Sänger Justin Currie macht aus dem Grund für die Abschiedstournee kein Geheimnis, selbst wenn es nicht explizit ausgesprochen wird: Vor allem, wenn er den Bass weglegt und nur das Mikrofon in der Rechten hält, zittert diese bisweilen heftig. Er müsste das nicht tun, er könnte das Mikrofon am Ständer lassen und die Hand in der Hose vergraben, das würde keinem auffallen. Das ist so eine scheiß-gemeine Krankheit, vor allem mit Ende 50, dennoch wirkt er souverän, aber wie es hinter der Bühne aussieht, weiß man nicht, und es geht niemanden etwas an.
Natürlich könnte man jeden dritten Titel in Richtung Abschied bürsten: „Don’t Cry, Don’t Cry“, ein neuer Song, ist aber ebenso ein Liebeslied (oder eben das Gegenteil davon) wie „Kiss This Thing Goodbye“. Sie haben indes nicht nur gallige Romanzen im Repertoire, sondern den Klassiker („a het!“, wie Currie in bestem Glaswegian einen „Hit“ ankündigt) „Nothing Ever Happens“, in dem er schon 1989 den Niedergang des Vereinigten Königreiches und andere schreckliche Entwicklungen in der Nachbarschaft anschaulich beschrieben hat: „They burn down the synagogues at 6 o’clock and we’re all going on like before …“ Man spürt so etwas wie Solidarität im Publikum, aber auch Wut und Trotz: In den Glanzzeiten der Band fing das an mit dem Wegbrechen des Mittelstands, nach 4.226 Tagen Maggie Thatcher, später im Schleuderwaschgang der Bankenkrisen und dann noch mal durch Corona und den hirnverbrannten Brexit. Fool, Britannia! Die Leute sind gebeutelt und erschöpft. Sie haben es satt, ständig herumgeschubst zu werden. Kulturetats werden heruntergefahren, denn Kultur bringt die Menschen zusammen, dabei könnten sie ja durchaus auf dumme Gedanken kommen. Krank wird man in England besser nicht. Man liest selbst in deutschen Zeitungen einiges darüber, wie perfide sich Albion sogar gegenüber den eigenen Landsleuten verhält. Wer mehr erfahren will, dem seien die Bücher von Jonathan Coe ans Herz gelegt. Auf dieser Reise begleitet mich „Nummer 11“. Ich hatte mich schon öfter gefragt, wer eigentlich neben Downing Street #10 wohnt. Natürlich ist es von einer Band zu viel verlangt, sich dem Niedergang entgegenzustemmen, aber Del Amitri verstehen es, Trost zu spenden und ein wenig Kraft, das alles mit Würde durchzustehen und die Widerstandsakkus aufzuladen. Ein bisschen Ablenkung kann nebenbei auch nicht schaden. Eine Dosis Schwermut light, ein wenig Wut, eine exzellente Mischung für einen Melancholeriker wie mich.
SMS von Bänz, der mitten im Getümmel steckt: „Bleibst du randständig?“ Ja. Tatsächlich ist die Nähe zu anderen Menschen, die so schwitzen wie ich, im dichten Gedränge, nicht mehr meins. Erstaunlich, wie gut sich zur Melancholie tanzen lässt, wenn man dazu tendiert (was ich leider nicht tue). Mein Kreislauf empfiehlt mir etwas anderes. Mitsingen geht. Der Saal ist picke-packe voll, ich bin froh, dass ich Corona gerade erst gehabt habe. Also stehe ich an der linken Seite mit dem Rücken zur Wand und gewinne erstmals seit langer Zeit einen Eindruck von meiner Körpergröße, ich sehe buchstäblich über alle hinweg, ein überragender Mann. Was mich in England überrascht.
Del Amitri waren nie eine erklärte Lieblingsband, wohl aber in meinem Fokus zu ihren erfolgreichen Zeiten, „Roll On To Me“ wurde im amerikanischen Radio rauf- und runtergespielt. Mit wachsendem Interesse an allerlei schottischem Gewese – Deacon Blue, Eddi Reader, Karine Polwart, Dean Owens – wurden sie rasch wieder präsent. Nahezu alle Interpreten von Belang kommen aus Glasgow, da spielt die Musik. Dort hätte ich sie lieber gesehen, ein Heimspiel ist dann doch von einem anderen Kaliber, wobei wir sicher keine Ansage verstanden hätten, in Leeds ist es schon schwer. Wie dem auch sei: Das Konzert war schlicht wunderbar, ich kann kaum erwarten, bis die Verklärung einsetzt … (was schon bei der Rückfahrt der Fall ist – Lieblingsstatus erreicht.)
Leeds. Bisweilen fressen die Ticketkontrollzugänge einfach die Fahrkarten auf: Man schiebt sie in den Schlitz und weg sind sie; wohin, wieso teilt sich mir nicht mit. Wozu sind die Sperren vor den Gleisen gut? Die Tickets muss man im Zug eh nochmal vorzeigen. (Wahrscheinlich will man das „Gesindel“ fernhalten.) Der Fahrschein ist also weg, wir sitzen im Zug von Leeds zurück nach Sheffield, eine Durchsage, wonach der, der ohne Fahrschein ist, £ 100 Strafe zu zahlen hat. Oops. Ich weiß nicht, wieso, vielleicht, weil ich ein Erinnerungsstück mitnehmen wollte, oder auch, weil mir die visitenkartengroßen Tickets mit den orangenen Streifen einfach gefallen – in Sheffield jedenfalls habe ich ein verwaistes Ticket eingesteckt, zufällig für die Strecke Leeds-Sheffield, dass vielleicht jemand, der nicht kontrolliert worden war (sie werden mit einer simplen Kulikrakelei entwertet), für andere dorthin drapiert hat – jedenfalls kann ich dem Schaffner das adoptierte Billett vorweisen. Wir kommen mit ihm ins Gespräch, weil er von Bänzens Interrail-Ticket überfordert ist („Das krieg ich nicht oft zu sehen“), um sich dann als Deutscher zu outen. Ausgerechnet ein „Kowwelenzer“, also genauer aus Winningen. Im Alter von zwölf Jahren ist er von der Mutter nach England ausgewandert worden, sein Deutsch muss er aus den hinteren Hirnwinkeln hervorkramen, es klappt ganz gut. Die Frage, ob er als Jugendlicher gemobbt worden wäre, verneint er – jedenfalls nicht, weil er Deutscher war. Das sei überhaupt ein Klischee, meint er, dass die Deutschen immer noch als „Krauts“ verunglimpft würden, da könne er sich nicht beklagen. (Wobei Bänz kurz vorher einmal bemerkt hat, er hätte einmal während eines Spiels in einem englischen Stadion mit deutscher Beteiligung sehr wohl Ressentiments gespürt.)
Sheffield, London, Paris, leider, äh: Stuttgart – 5. Dezember 2024.
Verwundert stelle ich fest, dass ich in England die meiste Zeit mit einem Pappbecher in der Hand durch Bahnhofshallen streune, es ist schwierig, sie loszuwerden, überhaupt überall stehen verwaiste Becher herum, was wohl dem Mangel an Mülleimern geschuldet ist. Bemerkenswert das relativ hohe Aufkommen an Geldwechselstuben angesichts der Tatsache, dass ich nicht ein einziges Mal bar bezahlen konnte. Die Bahnsteige sind oft zu kurz für die Züge. Oder die Züge sind zu lang, wobei das eigentlich nicht sein kann. Die Ansagen im Zug zwischen Sheffield und London, der hoffnungslos überfüllt ist, so dass das Zugpersonal bei den Zwischenhalten keine Passagiere mehr an Bord lässt, die Ansagen jedenfalls saufen allesamt ab in Knistern, Knarzen und Rauschen, als würden die AnsagerInnen das Gegenteil einer Räuspertaste betätigen, wie wir sie früher im Radio zur Verfügung hatten. Ergo: Die Züge sind doch eher zu kurz, wenn sie nicht alle Fahrgäste unterbringen. Ansonsten aber lief’s in England mit der Bahn manierlich, auch wenn der Zug zwischen Sheffield und St. Pancras ein wenig fußlahm daherkam. Frankreich war über jeden Zweifel erhaben.
Ein Anflug von Selbstkritik: Wir sind doch recht eindimensional unterwegs, für Sightseeing blieb wenig Zeit. Ignorantes Reisen? Nein, eher: fokussiert. Bänz schaffte sich sein neues Programm drauf, Alex traf man selten ohne Buch an, eines von den dunklen Suhrkamp-Taschenbüchern, schwere Kost. Mit ihm streife ich immerhin ein wenig durch Sheffield, die Millenium-Gallery bietet ein organisches Zentrum, eine augenscheinlich von vielen genutzte Begegnungsstätte mit großzügigem Wintergarten, 2001 eingerichtet zur Belebung der Innenstadt. Wer den Bahnhof von Sheffield verlässt, wähnt sich zunächst in der Downtown – das ist aber lediglich das Gelände der Hallam University, an der 60.000 Studenten immatrikuliert sind. Eine Hochschule mit eigenem Hauptbahnhof. Die City verbirgt sich dahinter, sie hat sich nach einem längeren Niedergang wieder berappelt und bietet wohl alles, was eine Stadt von knapp 600.000 Einwohnern bieten muss. Wobei die Fußgängerzone allerdings entfernt an die von Witten an der Ruhr erinnert. Die ausladende Filiale der Iceland Foods-Kette in bester Geschäftslage, die überwiegend Tiefkühlkost anbietet, ist kein gutes Zeichen. Gelegentlich frage ich mich, ob junge Leute überhaupt noch kochen lernen. (Zugegebenermaßen das Gemecker eines alten Zausels.) Wenn Deacon Blue im nächsten Jahr in Sheffield gastieren werden, müssen wir uns dringend hier umsehen, so bleibt es erstmal eine Schande für uns. Sehr erheitert hat mich auf dem Weg zum Bahnhof der Aufkleber an einem Pfosten, als Gruß aus der Heimat: „The Länd.“ Wahrscheinlich ein Vollpfosten.
Was wir von Leeds alles nicht gesehen haben, würde vermutlich Seiten füllen, zu unserer Entschuldigung: Es war halt eine Stippvisite, und sowieso dunkel, trotz Weihnachtsbeleuchtung. Zu den Häusern aufschauen kaum möglich wegen Regens und Eile. Nur so viel: Die Stadt scheint besser in Schuss zu sein als Sheffield. Mal sehen, wer 2025 hier alles konzertieren wird. Ein 65-Stunden-Trip nach England, das ist auch nicht viel besser als eine Shoppingtour in Paris, weswegen mich gelegentlich und durchaus zu Recht Unwirklichkeitsschübe ereilen, wenn ich z. B. morgens um acht Uhr die Londoner dabei beobachte, wie sie zur Arbeit pendeln. Was zur Hölle mache ich hier? Mein Gewissen beruhige ich damit, nicht geflogen zu sein. Und ich möchte keine Minute dieser Reise missen, keine Note von Del Amitri, keinen voreiligen Torschrei.
Coda.
Die Deutsche Bahn bildet eine ungute Klammer um diesen Trip, eine Start-Ziel-Pleite, wie eine Zange eher. Bei der Hinreise hat mein Zubringerzug nach Stuttgart überraschenderweise keine Verspätung, er fällt gleich ganz aus. Es ist Lenin, der mich gerettet hat, wenngleich die Zuordnung des Zitats nicht gesichert ist: „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“ Generell habe ich mir angewöhnt, einen frühzeitigen Blick auf die Bahn-App zuwerfen, bevor ich eine Reise antrete. Dank meiner Frau erwische ich den früheren Zug. Der nebenbei … lassen wir das. Unfassbar. Die frühere Anreise generiert einen Zwangsaufenthalt am Stuttgarter Hauptbahnhof, den man lieber nicht dort verbringen will. Entgegen vielen Behauptungen hat das Geläuf jedoch eine Seele.
Ich deponiere mein Gepäck in einem Schließfach, wobei mir auffällt, dass die umliegenden teilweise hohe Beträge ausweisen, viele davon lauten auf 96.50 Euro. Mehr geht wohl nicht. Was da wohl drin ist? Welche Schicksale sich dahinter verbergen? Nach dem Verstauen auf dem Zebrastreifen vor dem Bonatzbau überfahren worden? Vergesslichkeit? „Gepäck „aufgeben“ im wörtlichen Sinne? Ein „safe place“ für Obdachlose? Nie genug Geld, um das Gepäck auszulösen? Eine verzweifelte Seele, die jeden Tag zum Habseligkeitenfriedhof pilgert und mit wachsendem Entsetzen feststellen muss, wie sich der Betrag um weitere fünf Ocken erhöht hat? Oder einfach nur ein toter Briefkasten? Ich werde es heute nicht herausfinden. Tatsächlich verlasse ich Stuttgart pünktlich in einem ICE. Für die Hinreise gilt der Satz von Meriame Terchoume: „Die erste Hälfte war haarig, mit der zweiten bin ich happy.“ Für die Rückfahrt gilt leider die Umkehrung.
Ich habe unzählige Workshops, Kurse, Seminare etc. besucht, um mich abzukoppeln von den Volten dieses Unternehmens. Meditation, Yoga, Hypnose, you name it. Diesmal lässt sich das Problem nicht einmal wegatmen. Warum nur bedient dieses Versagerunternehmen jedes erdenkliche Klischee? Wir haben Strasbourg mit vier Minuten „drüwwer“ verlassen – und bei der Einfahrt nach St. Uttgart schon mit stolzen zehn. Großspurige Ansage im TGV: „Der IC nach Konstanz wartet auf die Reisenden.“ Was er nicht tut. Genau genommen fährt er mir buchstäblich unter der Nase davon. Auf der Strecke bleibt auch eine ganze Schulklasse. Keiner vom Bodenpersonal kann mir Auskunft geben: „Normal müsste der warten!“ In diesem Laden weiß die rechte Hand nicht, was die Linke tut. Es ist so erbärmlich. Vielen Dank, ihr Penner, dass ihr mir eine zusätzliche Stunde in der Schrottimmobilie Stuttgart Hbf. spendiert habt, zu halbwegs nächtlicher Stunde ein besonderes Vergnügen. Alle Unerschütterlichkeit ist perdu, seither laboriere ich an einer bahntraumatischen Belastungsstörung. Als ich meinen Furor mit einer Tafel Schokolade aus dem Selecta-Automaten runterdimmen will, rückt der Automat erstens keine Schokolade raus und zweitens fehlt bei der Geldrückgabe ein Euro. Ja, ich weiß, dass Selecta ein Schweizer Konzern ist, da haben sich die richtigen Loser gefunden. Wenn die CDU die nächsten Wahlen gewinnt, und danach schaut es schon aus, fällt das Verkehrsministerium womöglich wieder in die Hände der in dieser Hinsicht bekanntermaßen absolut unfähigen CSU – das war’s dann, good night.
Wenden wir uns lieber wieder erfreulicheren Perspektiven zu – der Ausblick: Die Schweizer Damen spielen am 21.02.2025 gegen Island (Wo? Die UEFA meldet: Noch keine Info zu dem Spiel. Vielen Dank für die Auskunft, das sind ja nur noch zwei Monate.) Konkreter sind Del Amitri: Am 20. Juni 25 spielen sie noch ein Abschiedskonzert in Inverness, da lohnt schon die Anreise. Und Deacon Blue gastieren am 29. September nächsten Jahres in Sheffield.
P.S. Die Reform-UK-Party, der Ehrenvorsitzender der First Brexiteer Nigel Farage ist, musste im Mai 2024 zugeben, einen Kandidaten wegen Untätigkeit abgemahnt zu haben. Eigentlich vorbildlich, wäre dieser Mann nicht zwischenzeitlich verstorben.
© Thomas C. Breuer Rottweil 12.12.2024