Großbritannien und Irland

UK Eire Scotland, Mai 2025

Die Deutsche Bahn hat mir zwei Tage vorher freundlicherweise eine Mail geschickt.

„Guten Morgen Thomas Breuer, auf Ihrer Reise von Karlsruhe Hbf nach Paris Est am 19. Mai 2025 gibt es eine Fahrplanänderung:

  • Ihr Zug fährt von Karlsruhe Hbf später ab. Die neue Abfahrtszeit ist um 08:07 Uhr.
    Bitte beachten Sie die neuen Zeiten.

Mit freundlichen Grüßen

Ihre Deutsche Bahn

08:06 Karlsruhe Hbf Gl. 2
08:07 ICE 9568 Richtung Paris Est
10:38 Paris Est

Solange die Bahn noch zu solchen Scherzen aufgelegt ist … (Tatsächliche Abfahrt: 8.25 Uhr.)

Großbritannien und Irland – neun Tage liegen vor mir, in denen ich ständig nach meinen Allergien gefragt werde – halt, in Irland nicht. Bleiben sieben. Eine Reise in sieben Tagen durch ein Land, in dem sich Nigel Farage anschickt, erste Wahlen zu gewinnen. (Irland hat da mehr Glück.) Eine Referenz an meinen früheren Reisestil: Horizontal statt vertikal, der Unterschied wie bei einer Weinprobe. Vertikal meint ein und denselben Wein aus verschiedenen Jahrgängen, das geht also in die Tiefe, horizontal hingegen beschäftigt sich mit Weinen aus einem Jahr aus dem gleichen Anbaugebiet. „Just another town along the road …“, sang Danny O‘Keefe 1972 in einem meiner Signature Songs, diese Reise wird horizontal und hoffentlich horizonterweiernd.

Wie wohl die Briten auf einen Rottweiler reagieren werden? Zur Erinnerung: Lange verunglimpften sie Camilla, weil sie Diana so schrecklich vermissten, als „Rottweiler“. Konrad Adenauer besaß einen, und welche Hunderasse nannte Winston Churchill sein Eigen? Einen Pudel. Noch Fragen? David Beckham und Elton John haben sich als Rottweilerfans geoutet. Weitere Antworten finden sich vielleicht unter www.british rottweilerassociation.co.uk., nächstes Event ist jedenfalls die Championship Show im Juli. Wer das Thema vertiefen möchte, kann sich weiter nach Digswell in Hertfordshire begeben, dort findet sich „The Doberman Club“.

Nächstes Problem: Wie kann ich mich ums Essen herummogeln nach der Ernährungsumstellung. Nach Möglichkeit keinen Zwischenstopp einlegen in Heartburn-by-the-Sea. Wird interessant, es handelt sich immer noch um England, Jamie und Nigella zum Trotz. Ich habe mir aus Diätgründen angewöhnt, vor jeder Mahlzeit eine Gurke zu essen. Beim Bangladeshi in Paris, auf dem Weg von „Est“ nach „Nord“, kaufe ich längliche, grüne Dinger, die ich für Gurken halte, obwohl sie weiße Streifen haben. Google liefert die Lösung: Es handelt sich um chinesische Schlangenhaargurken. Von behaarten Schlangen habe ich noch nie gehört, der Geschmack ist gewöhnungsbedürftig.

Vor London haben die Götter also Paris gesetzt, vom Bahnhof Est sind es laut Beschilderung fünf Minuten, in umgekehrter Richtung allerdings zehn. Der Zug ärmelt sich unter dem Kanal hindurch, eine fette Fliege taumelt durchs Abteil des Eurostars – in Paris zugestiegen, jetzt auf dem Weg nach England, ein Fall für die Border Force. Am anderen Morgen kreist im Bahnhof Euston eine Taube unter dem Dach, die es wohl versäumt hat, sich eine passende Exitstrategie zu überlegen. Ich habe absichtlich nicht Brexit geschrieben.

Anderentags, bei der Ausfahrt aus London, bereits etwas peripher, passiert der Zug eine hässliche Suppenschüssel, die aussieht wie von Calatrava an einem seiner schlechteren Tage entworfen: das Wembley-Stadion. Die Hässlichkeit überrascht mich. Ich reise nun auf den Spuren der Band Paddy Goes To Holyhead. Die Zuggesellschaft heißt Avanti West Coast, die nichts unversucht lässt, der Deutschen Bahn nachzueifern: Die Reservierungsanzeigen funktionieren nicht. Ein außerplanmäßiger, ausgedehnter Halt in Rugby, was sich Ruuhgby ausspricht. Ich bin zunächst froh um die vier Stunden Aufenthalt in Holyhead, von denen ich hoffte, dass sie ausreichen werden. Wir verweilen in Rugby, weil es irgendwelche „investigations“ gibt, die sich auf einen leblosen Körper im Gleisbereich beziehen. Das bringt uns eine andere Route ein, wir sind eingeladen auf das Streckennetz der West Midlands-Bahn über Birmingham, um erst bei Stafford wieder auf die vorgesehene Strecke einzuspuren. West Midlands lässt uns natürlich ein wenig zappeln, wir trödeln durch Coventry, das recht unvermittelt daherkommt, erst der Bahnhof, dann die Stadt.

Das nächste Stadion ist der Villa Park von Aston Villa in Birmingham, das schon eher nach einer guten, alten Kampfbahn aussieht. Grase den Bahnsteig ab, um vielleicht Prinz William zu erspähen oder seinen Filius George, die bekennende „Villans“ sind. Oder „Villains“? Der Prinz von Wales ist seit Jugendtagen Fan, warum, erklärte William bereits 2015 im Gespräch mit der BBC: Während seine Schulkameraden Fans von ManU oder Chelsea gewesen wären, hätte er nach einer Mannschaft geschaut, „die eher im Mittelfeld der Tabelle steht und mir eher eine Achterbahnfahrt der Gefühle vermitteln kann“. Wow, das Wort „Achterbahnfahrt“ wäre mir bei ihm nicht als erstes in den Sinn gekommen.

Der Zug kreuzt Straßen und Motorways. Mein Lieblingsschild: „Hard Shoulder Ends“. Könnte ein guter Wahlkampfslogan für Labour sein. Der Strecke eignet wenig Spektakuläres, Schnellbahn­trassen suchen immer den Weg des geringsten Widerstands, und „Midlands“ lässt nichts Großartiges erwarten, passend zu den „Villans“ im Mittelfeld der Tabelle. Hinreißend allerdings die Kanäle mit ihren Hausbooten. Erst allmählich ändert sich das Bild. Nach Crewe wellt sich die Landschaft, und am Horizont warten erhebendere Erhebungen. Im Großraumabteil sind wir zu sechst. Das Porridge gibt es ebenso gratis wie den Kaffee – ersteres ist wässrig, aber okay, der Kaffee sieht verboten gräulich aus, schmeckt aber wider Erwarten halbwegs. Um 12:30 erreichen wir Y Fflint – das ist kein Buchstabensalat, sondern walisisch für Flint. Wir sind im Hoheitsgebiet von Prinz William, in Wales.

Ein Ferienparadies – für die, die sowas mögen. Ferienhäuser begleiten uns die nächsten Meilen, teils Container, teils mobile Heime, dazu Hütten, Häuschen, Hotels, Pensionen, B&Bs. Endlos. Dazwischen Golfplätze. Nicht zu vergessen der kilometerlange Strand, wohl der Grund für diesen Massenbefall. Hier kann das gesamte Königreich auf einen Schlag Urlaub machen. Die Sicht auf die See verbaut allerdings häufig ein Damm – damn dam. Die Offshore-Windräder hängen in den Seilen, was mich einigermaßen beruhigt, deutet das doch auf eine reibungslose Überfahrt nach Irland hin. Ich bin kein Bootsmensch. Im Angebot sind auch Windmühlen ohne Räder, dafür mit Balkon. Bei Llandudno fahren wir durch eine alte Burg hindurch, buchstäblich, der Tunneleingang befindet sich in einem Wehrturm und der Ausgang in einem anderen. Die Berge trauen sich jetzt bis ans Wasser. Das andere Bangor kenne ich, das in Maine, da habe ich vor dreißig Jahren die Parade zum Unabhängigkeitstag gesehen, zufällig, danach gedrängt hatte ich mich nicht. Das walisische scheint ein hübsches Städtchen zu sein, ist allerdings bei 20.000 Einwohnern Bischofssitz. Ob man das ertragen kann? Ein dichter Wald und endlich die Brücke hinüber nach Anglesey. Der Blick fällt auf eine kleine Insel im Menai Strait mit malerischen weißen Häusern, im Hintergrund ein Viadukt, Wiesen mit Hecken, Kühe – all das hat man liebevoll für Leute wie mich arrangiert, eine lupenreine Kerrygold-Reklame, dabei bin ich noch gar nicht in Irland. Aber gleich.

 

Dublin.

Über die englische Bahn habe ich früher immer viel Schlechtes gelesen, endlich wird sie ihrem Ruf einmal gerecht, und ich bin dankbar dafür. Eine Stunde Verspätung verringert meine Zeit im schmucklosen Terminal in Holyhead. Für einen leblosen Körper an der Strecke kann Avanti ja nichts. Das Areal ist vom rustikalen Charme der späten Achtziger geprägt, und somit leider lange bevor Buchsen und Ladestationen für elektronisches Zeug erfunden wurden. Was den Zugang zur Fähre anbelangt – da sind selbst die Sicherheitsvorkehrungen der Amis an ihren Flughäfen lockerer. Riesenterz um mein Schweizer Sackmesserli in der Bonsai-Variante. Die verantwortliche Securitante wird damit bei ihrem Officer vorstellig, der sich ein Lächeln nicht verkneifen kann. Mit dreizehn Minuten Verfrühung legen wir ab, Irish Ferries wünschen „Bon voyage!“ Im Ferry Shop kann man sich die Souvenirs bereits im Voraus besorgen. (Zum Thema Duty-Free nur so viel: In London St. Pancras kostet eine Flasche Glenmorangie nur 47.09 £, unterwegs habe ich sie für 30 £ gesehen.)

Die Begrüßung in Irland: Der erste Regen. Mit dem Shuttlebus vom Schiff zum Empfangsgebäude, auf Tuchfühlung mit den Mitreisenden, von denen sich bereits einige auf den in Irland zu erwartenden Grundpegel hochgetrunken haben. Ich trete vor das Gebäude, zwanzig Meter entfernt steht ein Taxi. Ich winke, der Fahrer startet – und rauscht an mir vorbei, lässt mich im wahrsten Sinn im Regen stehen. Also rüber zum Bus. Den Fahrer frage ich, ob er vielleicht im Financial District hält – den kenne er nicht, sagt er ungehalten, er sei nur Bus- und kein Taxifahrer. Ich steige trotzdem ein. Wir fahren hundert Meter, um vor dem nächsten Terminal zu halten, wo wir etwa vierzig Minuten auf die Passagiere einer anderen Fähre warten. Die Endhaltestelle des Busses ist schließlich genau zwei Fußminuten von meinem Hotel entfernt – mitten im Financial District.

Das muss alles nichts heißen. Ich möchte mich dem Land unvoreingenommen nähern – was mir freilich nicht gelingen kann, aber versuchen will ich es schon. Ich habe eine Vorfeldschädigung, eine massive Überdosis Jigs-and-Reels aus den Siebziger-Folkclubs, allen voran in Witten an der Ruhr, wo sich Finbar & Eddie und Konsorten die Klinke in die Hand gaben, oder Clannad, als noch  Enya dabei war, bevor sie esoterische Anwandlungen kriegte. Jigs-and-Reels konnten jederzeit überall ausbrechen, und wenn sie nach Stunden endeten, war man glücklich davongekommen. Im Gegensatz zu vielen anderen hielt ich Sinéad O’Connor für eine Nervensäge, einerseits eine traurige Geschichte, andererseits Tragik als Geschäftsprinzip, alles durch und durch katholisch. Das ganze keltische Geschwurbel war nie meins, den Tolkien habe ich schon deshalb nicht gelesen, weil es alle andere taten (siehe „Trotz“ weiter unten) und der einzige Hobbit, den ich je ins Herz geschlossen habe, heißt Michael D. Higgins und ist Präsident von Irland, spätestens seit dem Livestream vom Staatsbegräbnis für Shane MacGowan. Um den Chauvinismus aber nicht auf die Spitze zu treiben: Paul Brady – ja! Lankum, Patrick Street, The Chieftains, The Swell Season, und, unlängst entdeckt, Amble. Van Morrison mit Abstrichen, und mit Lynda Cullen und Finton Lucy haben wir in Rottweil zwei veritable irische Musiker zur Hand. Einer meiner absoluten Lieblingssongs ist das irische Traditional „The Fields Of Athenry“, allerdings von Amerikanern wie Pat Metheny, Bruce Hornsby und Jerry Douglas eingespielt auf der CD „Rambling Boy“ von Charlie Haden, unbedingt hörenswert.

Wenn ich aber Reiseberichte sehe über Irland, die sämtlich zwanghaft im „Original Irish-Pub“ enden, die in Irland freilich nur Pubs heißen, also ohne Irish, weil man ja schon da ist, und jedermann von der ursprünglichen, ja authentischen Atmosphäre schwärmt, die man unbedingt erleben müsse, muss ich an mich halten, denn das findet eben jeden Abend statt, also eher autistisch als authentisch. Nicht minder allergisch bin ich gegen die versteckte Drohung: „Das wird Ihnen bestimmt gefallen!“ Hier zelebrieren sie „Grüner Bock“ statt „Blauer Bock“, wobei – strafverschärfend kommt dieses grässliche Bier hinzu. Natürlich ist mir meine paddyhafte Schiebermütze peinlich, weil anbiedernd, aber ich habe nun mal keine andere dabei, eine Basecap kommt nicht mehr in Frage.

Die innerstädtischen Malls mit ihrem geschleckten Interieur bilden einen herben Kontrast zu ihrer Umgebung, viele Ecken hinterlassen einen erbarmungswürdigen Eindruck. Im Stephen Green Shopping Centre zeigen sie eine Dauerausstellung über die Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts in unmittelbarer Nähe zum Food Court. Sehr schlimm und auch sehr katholisch Zu Zeiten der Hungersnot von 1845 in Irland verbot die katholische Kirche den Verzehr von Fisch – außer an Freitagen. Der irische Schriftsteller und Nationalist John Mitchel dazu: „Der Allmächtige, gewiss, sandte die Kartoffelfäule, aber die Engländer schufen die Hungersnot.“

Beim beabsichtigten wie ergebnislosen Hosenkauf fällt auf, dass es kaum Größen für längere Beine gibt – entweder sie sind alle aufgekauft, weil überproportional viele hochgewachsene Männer danach fragen oder aber … wenn ich mich so umschaue: Gut, da sind nicht nur Iren unterwegs, Dublin ist ein Tourismus-Hotspot, aber die kurzgewachsenen Kerls sind in der Überzahl, kleine, zähe und eher bärbeißige Typen, rosigen Teints, oft kahlgeschoren, vor allem die älteren Männer bartschattig, die Jüngeren mit einem Hang zu Fußballtrikots von Vereinen, die sie nichts angehen. Dublin hat wenig Anheimelndes, es wird viel gebelfert und geschimpft, als passionierter Bruddler passe ich nicht schlecht hierher, aber der Bordunton ist deutlich aggressiver.

Verschiedene grundlegende Sachverhalte scheinen sich in Dublin nicht herumgesprochen zu haben: Mögliche gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Tabakgenus z. B. – Paddy pafft pausenlos. Er „vaped“ auch gerne, sie ebenso. Taubenfüttern fördert das Taubenproblem. Die katholische Kirche scheint unverändert Zugriff auf junge Erwachsene zu haben – oder wie sind die vielen Teenagermütter mit ihren Babys zu erklären? Mangelnde Aufklärung? Rote Ampeln für Fußgänger sind höchstens als Empfehlung gedacht. Wenn jemand an einer Ampel stehen bleibt, dann bloß, weil er / sie aufs Handy starrt. Selbst Touristen sind schnell im Flow, sogar bisweilen ich. Mir ist bewusst, dass dieser Gedankengang ein typisch deutscher ist, andererseits denke ich an die Bus- und vor allem Tramfahrer, die eiserne Nerven haben müssen. Der wütende Doppelton der Straßenbahn ist mir als typischstes Geräusch in Erinnerung geblieben: Däng- Däng!

Dublin bemüht sich tapfer, den Erwartungen gerecht zu werden, das ist anstrengend für alle Beteiligten. Halbherzig suche ich im Netz nach dem besten Irish Stew der Stadt, und lande beim Old Mill in der Temple Bar Street. Das ist die Straße, in der ich zufällig gerade sitze, im Caffè Nero, dem einzigen Laden, den man in diesem Viertel ertragen kann: Drumherum übelstes Disney-Irland, Wild Rover, Guinness als Lebenselixier, alles in grün, viele Schilder in dieser Gaelic-Type-Schrift, und was haben die nur dauernd mit ihrem Kleeblatt? Man hätte es sich denken können: St. Patrick soll es benutzt haben, um den Bauern die Dreifaltigkeit zu erklären. Außerdem gilt es als Symbol für das Kreuz. Als Nebeneffekt soll es Feen anlocken und, nebbich, Glück bringen. Mein Verhältnis zu Feen ist mit „gleichgültig“ zurückhaltend umschrieben, beim Klee handelt es sich lediglich um eine Hülsenfrucht und St. Patrick ist im Nebenjob Schutzheiliger von Nigeria. Selbst das Gälische mutet folkloristisch an, als Hauptamtssprache („an phríomhtheanga oifigiúil“) gibt es das erst seit 1948 und wird vor allem im Westen Irlands gesprochen, weniger aber in Dublin. In der Metropole stampft diese Sprache ein wenig mit dem Fuß auf, vielleicht um es den Briten, namentlich Nordiren reinzureichen, als Abgrenzungsstrategie, überhaupt stampfen sie gerne, wenn wir schon dabei sind, beim Riverdance® haben sie das zur Hochkultur weiterentwickelt – die Kniechirurgen dürften ein gutes Auskommen haben.

Mit dem Fuß aufstampfen – das war als Kind meine Lieblingsdisziplin: Diese „Wohle!“-Relikte von damals treten heute noch gelegentlich auf, leider. Mit kindischem Trotz verzichte ich ergo auf das Stew zugunsten einer „Fejoada“ beim Brasilianer auf der Talbot Street, die mir derart krachend ins Gedärm fährt, dass ich den Hof (= das Hotel) mit Müh und Not erreiche. Vielleicht sollte ich mich doch einmal mit dem Kapitel Spiritualität befassen, das könnte schließlich eine simple Retourkutsche der irischen Tourismusgöttin Díoltas an Síog na Cristine in geheimer Absprache mit irgendwelchen Orishas aus Bahia gewesen sein. Dieses Katholending sollte ich bis zu meinem letzten Stündlein geklärt haben, aber bisher hat mir Gott nicht das geringste Anzeichen von Gesprächsbereitschaft signalisiert. Statistiken besagen zudem, dass die Religionsausübung in Irland stark zurückgegangen ist. Auf dem Papier und in den Kirchenbänken sicher – aber in den Köpfen?

Damit gleich zur nächsten Station. Der Bahnhof macht den Abschied leicht, mit dem Charme einer Greyhound-Station im Mittleren Westen, sagen wir: Cleveland, etwa 1987. Sitzgelegenheit: Genau eine Sitzbank. Die „Belfast-Lounge“, ein hochtrabender Name für dieses Geläuf mit seinem Glasdach voller Taubendreck, bietet zumindest ein paar weitere kühle Metallsitze. Immerhin, die Züge von Irish Rail sind für Rentner gratis. (Was mir als Interrailer egal sein kann, trotzdem ein netter Zug.) Und eh: Irland kenne ich gar nicht, nur Dublin „a tiny wee bit“. Wie man sieht, arbeiten sie am Stadtbild.

Im Zug sitzt mir eine ältere Dame gegenüber, die an ihrer Jeansjacke – sie trägt einen „Canadian Tuxedo“ – zwei Pins befestigt hat: Die kanadische Flagge und ein rotes Ahornblatt. Ich bin versucht zu fragen, ob sie immer damit reist (Kanadier tun das gerne, ebenso Norweger und Schweizer, die Wikinger wollen nicht für Schweden gehalten werden, die Schweizer nicht für Deutsche) oder ob die Pins der besonderen politischen Situation geschuldet sind. Da ich in hochsensiblen Zeiten nicht weiß, ob sie diese Frage als Beleidigung auffassen könnte, unterlasse ich sie. Früher schien es ratsam, sich in England als „Kraut“ zurückzuhalten. Heutzutage versuche ich, meinen amerikanischen Akzent zu verbergen. Notfalls könnte ich mich ja als Kanadier ausgeben, ey.

Belfast.

Ich bin bei Stadtvisiten nicht der Hop-on/Hop-off-Bus-Typ, was niemanden überraschen wird, sondern eher der konsequent ziellose Kerl, wenn ich allein reise und gehe zumindest da mit dem Reiseschriftsteller Helge Timmerberg konform, der am 12.04.2025 beim Interview mit der Süddeutschen gesagt hat: „Ich war der Meinung, dass eine schlampige Vorbereitung die besten Voraussetzungen für eine ergebnisoffene Reise schafft.“ Andererseits hat Volker Finke, der Trainer vom SC Freiburg zwischen 1991 und 2006, bereits im Jahre 2000 geäußert: „Der Bonus sympathischer Inkompetenz war längst aufgebraucht.“ Yogi Berra darf nicht fehlen: „Wenn du nicht weißt, wohin du willst, kommst du ganz woanders an.“ Ich denke, ich liege irgendwo dazwischen.

 

Der Belfaster Bahnhof, der ein kleineres Streckennetz als der Dubliner bedient, ist riesig. Dublin würde da dreimal reinpassen, und zehnmal sauberer ist er allemal. Hier könnte der Linfield FC lässig seine Heimspiele austragen. Überhaupt ist mehr Geld in der Stadt, was vielleicht zur Befriedungsstrategie Londons gehört. Aber auch hier fallen die vielen Zelte der Obdachlosen auf, während gleichzeitig ein Tourismus-Prospekt „Glamping“ anpreist, campieren mit Bett und Dusche. Davon, dass hier die Titanic gebaut worden ist, hat die Stadt keine bleibenden Schäden davongetragen, man gibt sogar ein bisschen an damit. Von den „troubles“, wie man sie hier euphemistisch nennt, also den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen IRA und den Ulsters, wurde Belfast eben schon nachhaltig be- und geschädigt, fünfzig Jahre etwa ist das her, ich hoffe, sie haben kein Jubiläum geplant. Gleich links unterhalb meines Fensters, mir zu Füßen, liegt das Viertel Sandy Row. An jeder möglichen Stelle haben sie den Union Jack befestigt, Wandgemälde lobpreisen Wilhelm von Oranien und erinnern an die Queen, das sind Signale, an denen es wenig zu deuteln gibt. Die Viertel, in denen die schlimmsten Auseinandersetzungen stattfanden, die insgesamt 3.600 Menschen das Leben kosteten, liegen aber eher in der Peripherie.

Keine Stadt in Großbritannien ist mir bisher amerikanischer vorgekommen als Belfast, sie erinnert mich mit den vielen Backsteinbauten an Cincinnati. Der „Foodmarket“ vor der City Hall verstärkt das Amerikagefühl, ich bleibe eine Stunde auf einer Bank sitzen, nachdem ich ein Louisiana Chicken Stew vertilgt habe, mit den Gewürzschwaden wehen Countrysongs der 90er herüber, mithin aus Zeiten, die vergleichsweise unschuldig waren, augenblicklich kochen Wut gegen und Wehmut wegen Amerika hoch. Peinlicherweise könnte ich fast jeden zweiten Song mitsingen, Wynnona, Hal Ketchum, Faith Hill – deren Mann Tim McGraw singt soeben darüber, was ein 30jähriger noch alles vorhat im Leben, Haus bauen, Baum pflanzen etc.: „My Next Thirty Years“, und etwas wehleidig fällt mir dazu ein, dass von meinen vermutlich „Last Thirty“ deren zwölf bereits verstrichen sind. Insgesamt kommt mir die Atmosphäre in Belfast entspannter vor als in der Irischen Republik, vielleicht ist man einfach ein bisschen erleichtert, dass der Krieg vorbei ist und die „Inselverzwergung“, aka Brexit bis dato noch nicht für neuen Ärger gesorgt hat. Auf dem Stadtplan entdecke ich sogar eine „Friendly Street“. Belfast sei gut zum Leben, sagt der nigerianische Taxifahrer am nächsten Morgen, er habe längere Zeit in Dublin verbracht. Und, frage ich. „A shithole!“, sagt er nachdrücklich: Unfreundliche Leute, sauteuer. Dabei hat er als Nigerianer mit den Iren sogar den Schutzheiligen gemein.

Stirling.

Endlich Schottland. Mit der Fähre von Belfast nach Cairnryan, mit dem Bus nach Ayr, mit Scotrail nach Glasgow, Ziel Stirling. Irgendwie hatte ich die Stadt schon in schlechter Erinnerung, bevor ich auch nur einen Fuß hineingesetzt habe. Stirling wirbt offiziell mit seinem „mittelalterlichen Charme“ – schön und gut, aber wer unterzieht sich der Mühe, den Blick über das Geschäftelevel hinaus nach oben zu richten? Und was, wenn jeder dritte dieser Läden Leerstand aufweist – schaut man sich dann stattdessen die Häuser an? Binse: Wenn das Geld erst einmal aus der Stadt herausmarschiert ist, folgen die Geschäfte – also Leerstand. Nicht in jedem Fall, denn gleichzeitig siedeln sich überproportional viele Wettbüros an. Bei Pfandhäusern versteht man das ja, ebenso bei Wohlfahrtsläden wie von Oxfam oder der British Heart Association, bei Schnellfressbuden, Discountern und Nickel-&-Dime-Shops. Stirling ist traurig und bleibt weit unter seinen Möglichkeiten. Der Fußballclub Stirling Albion spielt mittlerweile viertklassig und korrespondiert mit dem Niveau der Stadt. Hässlich ist sie eigentlich nicht, also, was ist hier los? Warum wirkt Stirling wie eine Oase, der das Wasser ausgegangen ist?

 

Analog dazu ist das Hotel eine Bruchbude. Es ist immer wieder verblüffend, wie viele ausgezeichnete Fotografen es gibt, die eine Absteige wie einen Fünf-Sterne-Palast aussehen lassen können. Falls das ein familiengeführtes Hotel ist, sollte man dringend ein paar gut ausgebildete Sozialarbeiter reinschicken – in die Familie, nicht ins Hotel. „We operate a non-contact checkout, please …“, heißt es in einem Wisch an der Wand. Überhaupt „preferen“ sie a „non-contact“-Auf­enthalt, das Etablissement ist achtlos bis ins Mark, leicht siffig obendrein. Man betritt das Haus durch eine wenig besuchte Bar, die Frau hinterm Tresen programmiert die Zimmerkarte falsch, so dass man gleich wieder runter darf. Das Zimmer liegt direkt über der Bar, in der – obwohl Freitag – zum Glück nichts los ist, und Gottseidank regnet es, so dass niemand draußen sitzen und lärmen kann. Einziger Lichtblick der Inder gegenüber, der eine südindische Spezialität namens „Dosa“ anbietet, ein Fladen mit Huhn und vier verschiedenen leckeren Soßen. Das Beste an der Bar: Tennents vom Fass. In Großbritannien ist der Spruch beliebt: „Turndown for what?“ – wieso mit dem Trinken aufhören? Hier sicher nicht, Stirling muss man sich schöntrinken.

Was aber hat es mit den unzähligen Nagelstudios, Tattooklitschen und Bräunungsschuppen auf sich? Selbstverliebtheit scheint ein Grundübel dieser Gesellschaft zu sein, nicht nur hier, sondern auch sonstwo. Die Leute schauen zu viel in den Spiegel, die Zeit für Neben- oder Seitenblicke ist knapp bemessen, der Look muss stimmen, das Ego ist das Mindset, niemand scheint Zeit zu haben, sich um andere Dinge zu kümmern, niemand fühlt sich verantwortlich. Die notorische Frage im Restaurant nach Allergien oder sonstigen Unverträglichkeiten kann ich – aufs große Ganze übertragen – so beantworten: Es ist die allgemeine Wurstigkeit, gegen die ich allergisch bin, die Lieblosigkeit, der fehlende Zusammenhalt. Die meiste Zeit starren sie ins Handy. Sicher gibt es irgendwo wissenschaftliche Studien, wie hoch der Anteil des manischen Handygedaddels an der eigentlichen Arbeitszeit ist. Alle sind rund um die Uhr abgelenkt – warum wird nichts dagegen unternommen – weil es dann zu Unruhen kommt?

Nun bin ich zwar Verfechter der Theorie, dass man nicht alles zu nah an sich herankommen lassen sollte, aber da geht es um individuelle Probleme. Für den gesellschaftlichen Gesamtentwurf kann es aber doch keine gescheite Strategie sein, alles verkommen zu lassen. Wie kriegt man das hin, dass sich mehr Leute mehr verantwortlich fühlen? Würde gibt es nicht als Spray oder Gel – da muss man was für tun, hier muss die Politik ansetzen. An vielen Schulen, bei uns gerne im Osten, gehen ganze Jahrgänge verloren, die nicht mehr erreichbar sind und denen die AfD irgendwann zu mainstreamig sein wird. Apropos AfD: Deren Parteispitze mit ihren europapolitischen Schwachsinnfantasien sollte man für ein paar Tage in die Innenstadt von Stirling oder Birmingham schicken, damit sie sehen, was wirtschaftlich passiert, wenn man der EU den Rücken kehrt (Die anderen idiotischen Entscheidungen, die anfallen, wenn man Leute wie Boris Johnson und törichte Tories überhaupt regieren lässt, bleiben hier mal außen vor, die AfD hat aber ein ähnliches Personaltableau.) Die Standardansagen im Zug beim Einfahren in einen Bahnhof lauten: „Please mind the gap between you …“ well – and a great life?

Zum Lachen gebracht hat mich German Döner Kebab, dem Schriftzug nach zu urteilen aber eine Kette. Trost bietet ein anheimelnder Gemüseladen namens Ginger Roots, wo ich drei Gurken kaufen kann, ohne sie einscannen zu müssen und nicht mal mit Karte bezahlen muss, sondern mit solidem Münzgeld – nahezu mittelalterlich. Der Verkäufer, ein Mann in seinen Sechzigern mit Schiebermütze nebst Palästina-Pin, erzählt, dass er vor zwanzig Jahren mit einer Theatertruppe in Deutschland war, in München, Halle und Magdeburg, wo es ihm am besten gefallen habe. Old school, schon klar, aber bei einem Self-Checkout wäre ich nie mit ihm ins Gespräch gekommen.

Dundee.

Apropos gefallen: Da erhält Dundee den Zuschlag. Vielleicht sollte man in jeder Stadt eine Kunstakademie ansiedeln, die hebt jedenfalls das Niveau. Auf den ersten hundert Metern vom Bahnhof zur Innenstadt zwei Plattengeschäfte. Hier betrete ich zwar meine erste Mall nur für Billiganbieter, insgesamt finden sich in Dundee deutlich weniger Leerstände. Eine lebhafte Stadt, fröhlich, selbst der Palästina-Demo, etwa 78 Teilnehmer, die mit einem Dutzend Polizisten auskommen müssen, fehlt es an Verbissenheit. Okay, bei mir verhält sich das so: Ebenso wenig wie ich mitklatschen oder mitsingen kann, mag ich dieses Kasperletheater mit dem lauten Skandieren von Inhalten nicht, dieses Frage-Antwort-Spiel, den Gospel von „call-and-response“, aber so bin ich nun mal. Worum geht es, fragt mich ein Asiate. „Palestine“, sage ich. Gegenfrage: „Pakistan?“ Vielleicht ist mein Englisch doch nicht so gut. Oder seins. „Which country?“, fragt er. „Palestine!“ Ratloser Blick. „Israel“, sage ich wahrheitsungetreu. „Thank you.“

Die Jesustante ein paar Meter weiter klingt vom Tonfall her kaum anders als der Einheizer der Demo, nur dass ihr niemand antwortet. Das V & A Designmuseum, entworfen vom Japaner Kengo Kuma, den ich erst googeln muss, hat die Attraktivität der Stadt deutlich angehoben, der Entwurf wurde von den östlichen Klippenkanten der schottischen Küste inspiriert. Für weitere Angaben danke ich dem Google-Übersetzer: „Während des Baus wurde ein Knarkerdam installiert, der es dem Außenverteidiger ermöglichte, sich auf den Fluss Tay auszudehnen, und 780 Tonnen grauer Betonplatten vorgäkierte wurden der Außenbauch hinzugezurrt. Es kostete 20,1 Millionen Dollar.“ Da möge jeder seine eigenen Schlüsse draus ziehen. Der Eintritt ist trotzdem frei. Nur ein paar Meter über die Fußgängerzone hinaus und schon bin ich im Contemporary Arts Centre, Arts gibt’s nach 17 Uhr leider keine mehr, aber das Restaurant überredet mich zu einem Thaicurry und einem Glas Tennents. Im Gegenzug hebe ich den Altersdurchschnitt.

„It’s Interrail!“, sage ich an der Zugangsbarriere vor den Gleisen und halte der Scotrail-Frau mein Handy mit dem QR-Code hin. Sie strahlt: „Lovely!“ Auf die Bahn-App im Handy ist freilich kein Verlass: Für die Züge Glasgow-Stirling und Stirling-Dundee wurde angedroht: Nur 2. Klasse. Gereist bin ich erster. Die Dame auf dem Sitz mir gegenüber trägt einen Ausweis am Schlüsselband, auf dem in großen Lettern „Hidden Disability“ steht. Wenn es irgendwo dransteht, ist das mit dem „Hidden“ natürlich so eine Sache. Der Text auf dem Ausweis interessiert mich, dazu muss ich eigens die andere Brille rauskramen: „Anxiety Awareness“, steht da drauf. Panikattacken sind mir nicht fremd, vor allem, was größere Menschenmengen anbelangt und Geräuschpegel. Je älter, desto mehr. Die tröstliche Botschaft: Es gibt also Leute in Großbritannien, die sich um andere Menschen kümmern. Noch ist nicht alles verloren. Was „vorgäkieren“ bedeuten könnte, weiß ich bis heute nicht. Kleiner Schottland-Spoiler zum Schluss: Der Kilt wurde von einem Engländer erfunden, Thomas Rawlinson aus Lancashire.

Genau 4:59 Minuten braucht der Zug von Edinburgh Waverley nach Birmingham New Street. Ausgerechnet dieser Zug ist ein Griff ins Klo. Oder anders formuliert: Cross Country, my ass. Ich habe mir extra nichts zum Essen mitgenommen, bisher wurde ich im Zug stets verwöhnt. Nicht bei Cross Country: Gerade mal ein klebriges Sandwich rücken sie raus. Insgesamt ist der Service lausig, sie lassen einen warten, das Klo funktioniert nicht, der Waggon ist dreckig. Vielleicht habe ich ein besonders schlimmes Exemplar erwischt, aber die anderen Züge der Gesellschaft, die in Bahnhöfen stehen, sehen nicht vertrauenerweckender aus. Einfahrt in Newcastle, Durham, Darlington, York – die Bahnsteige sind voll, es ist verlängertes Wochenende, aber keiner schickt sich an, einzusteigen, die Engländer kennen natürlich diese Züge und halten vornehm Abstand. Gut, es gibt schlimmere, aber eben auch bessere Bahnlinien wie LNER oder Avanti, die zu dreißig Prozent Trenitalia gehören, die, kein Quatsch, längst zu den besten Linien Europas gehören. Deswegen möge dieser Abschnitt als Reisewarnung dienen. Ich versuche, in den Gesichtern auf den Bahnsteigen Anzeichen von Schadenfreude oder Mitleid zu erkennen, aber diesbezüglich sind die Briten eher cool und ohnehin stets höflich. In Dundee sprach ein Verkäufer im Outdoorladen: „Ich möchte Sie keinesfalls drängen, aber wir schließen in drei Minuten!“

Birmingham.

Die letzten Nachrichten, die ich im Zusammenhang mit Birmingham mitgekriegt habe: Streik der Müllabfuhr führt zu einem Dauereinsatz der Schädlingsbekämpfer. In der Kriminalstatistik belegt die zweitgrößte Stadt des United Kingdom Platz drei. Birmingham wirkt aufgekratzt, was Gründe hat, die nicht direkt mit der Stadt zu tun haben. Vielleicht bin ich diesmal zur selben Zeit in der Stadt wie Nick Hornby? Arsenal hat heute im Villa Park zum Saisonfinale gegen Aston gewonnen. Das werden die „Brummies“, Spitzname der Ureinwohner, wohl kaum feiern. In der geschwungenen Bahnhoffassade aus Edelstahl kann man sich verzerrt spiegeln, womöglich, um die Passagiere gefügig zu machen. Leider handelt es sich um ein Material, das nicht in Würde altern will. Die Innenstadt macht einen chaotischen Eindruck, die Gebäude scheinen wie Bauklötze wahllos in der Gegend verteilt, eine Idee dahinter ist für den Laien nicht erkennbar. Gut möglich, dass Alexander Mitscherlich hier anlässlich eines Studienaufenthalts in den Sechzigern die Idee zu seinem Buch „Die Unwirtlichkeit der Städte“ gekommen ist. Birmingham wäre ein guter Kandidat für „Undertourism“. Ozzie Osborn ist hier geboren, das hilft im Moment zwar nicht weiter, scheint aber andererseits nicht unpassend. J.R.R. Tolkien verbrachte seine Kindheit hier, wahrscheinlich musste er sich deshalb dringend eine Gegenwelt schaffen. Birmingham umweht etwas Dunkles.

Das Hotel ist so, wie früher Hotels waren, meinem Großvater hätte es sehr gefallen. Zwei Wasserhähne, mit denen man die Temperatur selbst mischen darf. Knietiefe Teppiche, schwere Vorhänge. In Liverpool, wohin ich ursprünglich gewollt hatte, hätte ich dafür mindestens 300 £ bezahlt, jetzt ist es mit 103 £ das zweitbilligste der Reise. Anderntags soll ich den Grund für das Liverpooler Preislevel erfahren. Die Nacht ist unruhig: The Night of the Prolls. Krakeele, Sirenen, Bassgewummer, eine Stadt im Feierdelirium, morgen ist Spring Bank Holiday. Aber was bejubeln die genau – dass Birmingham City in die zweite Liga aufgestiegen ist? Nein, das steht schon länger fest. Es geht um den Verein, der soeben Meister wurde, in einer anderen Stadt, 160 Kilometer entfernt. Eine Quizfrage zwischendurch: Wie heißen die „Englischen Wochen“ im Fußball in England? Three-Game Week. Birmingham und das rote Meer. Die Fans in den roten Trikots beherrschen die Szene – „Liverpudlians“, die die Meisterschaft feiern. Am nächsten Tag wollen sie alle zur Parade an die Merseyside. „Der Zug kann nicht bewegt werden, weil er hoffnungslos überfüllt ist“, lauten die Ansagen in Endlosschleife. Die Zugänge zu den Gleisen sind verstopft, für mich muss jetzt die „stiff upper lip“ Ehrensache sein. Die Stimmung ist nicht aggressiv, es ist ja erst früher Morgen. Bei der letzten großen Feier waren in Liverpool 750.000 Menschen auf den Straßen. Am Montag gegen 18 Uhr Ortszeit rast ein Mann unter Drogeneinfluss mit einem Ford Galaxy in der Waterstreet in die Menschenmenge und verletzt dabei 79 Menschen.

Leicester.

Die Fahrt von Birmingham nach Leicester dauert eine Stunde in einem gemütlichen Triebwagen, durch die eine Art Minibar geschoben wird: „Any Snacks, Wine or Beer?“ Eine bessere Grundversorgung als bei Cross Country, wobei der ältere Herr den Wein als „Woine“ ausspricht. Für diesen Streckenabschnitt bedarf es nicht unbedingt eines Fensterplatzes, dennoch ist das ein grundsolider Kurztrip, an dem es nichts zu bemängeln gilt. Anfangs zeigt es sich etwas unzugänglich, dieses Leicester, was sich bekanntermaßen als „Läster“ ausspricht, da an den Gleisbarrieren niemand steht, der mich vom Gelände lässt. Der QR-Code meines Passes überfordert die Scanner überall, da bedarf es Bahnbediensteter. Zum Glück kommt jemand mit Fahrrad und gültigem Ticket, mit dem schlupfe ich einfach durch.

Die Stadt wird das zweite Highlight der Reise, obwohl sich mir der Unique Selling Point nicht erschließt: König Richard III. Das Museum, das erste auf britischem Boden, das Eintritt verlangt, schenke ich mir, ich habe Richard I. und Richard II. verpasst und daher die Befürchtung, dass ich nicht mehr reinfinde. Die Inhaltsangabe lese ich hinterher nach und lande bei den üblichen Gemetzeln: Die Herrschaften waren im 15. Jahrhundert (vorher und danach nicht minder) überwiegend mit Hauen und Stechen beschäftigt. Sie prügelten sich rund um ihre Festungen, Schlösser und Burgen, begehrten ihres Nächsten Weib und Hab und Gut, meuchelten drauflos, schändeten, kujonierten, spießten einander auf, dass es eine Art hatte. Man robinhoodelte ausgiebig in der näheren Umgebung, Notting­ham ist in gestrecktem Galopp nur eine Stunde entfernt. Zwischendurch wurde ein gepflegter „High Tea“ serviert. Sie heirateten einander, verrieten einander, entführten einander, wie man sich halt die Zeit vertreibt, bis der Sheriff kommt. Insgesamt ging es etwas unblutiger zu als in der Premier League, aber ständige Wechsel von Farben, Fahnen und Vereinen, von Warwick zu York, von York zu Lancaster, von Lancaster zu Tudor, meist ohne Ablösesummen, waren an der Tagesordnung und in der Summe sehr verwirrend. Salopp formuliert hatten alle einen in der Krone. Die Richarde entstammten der Dynastie der Plantagenet, was eher klingt wie eine Domain für Obstbauern. Der dritte von ihnen brachte es auf insgesamt magere zwei Königsjahre, ehe er, jünger als Jesus, mit der Streitaxt erschlagen und nackt im Wirtshaus The Wake in Leicester ausgestellt wurde.

Der Stadt ist der Abstieg kaum anzumerken, jedenfalls nicht der diesjährige aus der Premier League, nachdem man 2016 überraschend englischer Meister geworden war, ein One-Hit-Wonder der Abteilung David vs. Goliath. Von da an ging’s bergab, der Meistertrainer wurde gefeuert und durch einen Mann namens Craig Shakespeare ersetzt, dessen Vorfahr 420 Jahre zuvor das Drehbuch zu Richard III. geschrieben hatte. Der Clubbesitzer stürzte mit dem Hubschrauber ab, so sehen die Dramen der Moderne aus. In diesem Jahr sind die „Foxes“ erneut abgestiegen, die Trikots in den Sportartikelgeschäften gibt es zum halben Preis.

Das Bonmot “Football is a simple game; 22 men chase a ball for 90 minutes and at the end, the Germans always win.” ist allgemein bekannt und bedürfte eigentlich keiner weiteren Erwähnung, stammte es nicht von Gary Lineker, der vor 65 Jahren in Leicester geboren wurde und seine ersten fußballerischen Erfahrungen beim örtlichen FC machte. Ein paar Tage vor meiner Visite gibt er seinen Rücktritt als Fernsehkommentator der BBC bekannt, weil er auf Instagram einen antisemitischen Post geteilt hatte, nach seinem Bekunden aus Versehen, weil er schlicht ein Emoji übersehen hatte. So etwas darf einem Profi nicht passieren, er hat sich umgehend davon distanziert und seinen Post gelöscht. Man weiß doch: Vorsicht, wo man ein Häkchen setzt. Zwar stand er kurz vor der Rente, er sollte aber noch den FA Cup und die Fußball-WM im kommenden Jahr moderieren, da geht es um echtes Geld. Trotzdem ist es schade, er ist nämlich ein Guter, nichts in seiner Vita deutet auf Antisemitismus hin. Zwei Jahre zuvor hatte er die Werbung der konservativen Regierung für ihre Asylpolitik mit der Sprache der Deutschen in den dreißiger Jahren verglichen, was ihm eine Suspendierung einbrachte. Die Wut der Zuschauer, die Empörung der Spieler und die Solidarität der Kollegen waren so gigantisch, dass die BBC die Suspendierung wenige Tage später aufhob. Ein meinungsstarker Gentleman, gebildet, bodenständig und „posh“, eine seltene Kombination, die zum Leicester von heute ganz gut passt wie Ozzie und J.R.R. zu Birmingham passen. Weil er für seine Kommentare vor allem von den Rechten angegiftet wurde, soll er an dieser Stelle dringend gewürdigt werden. Okay, ein bisschen arg viel Fußball in dieser Geschichte, was vielleicht daran liegt, dass ich mehr Zeit zur Verfügung habe, mich damit zu befassen und Fußball – Binse – nach wie vor ein optimaler Spiegel für gesellschaftliche Befindlichkeiten ist. And now – Zitat – „to something completely different …“

Leicester hat eine schnuckelige Altstadt und hässliche Einkaufsstraßen, es wird also für alle gesorgt. Auf den Straßen sieht man viele junge Leute wegen der Universität, die sich anscheinend das Essen gerne nach Hause oder ins Wohnheim bringen lassen, weswegen Leicester eigene Radspuren nur für Fahrradkuriere eingerichtet hat. Die Fauna wartet mit überraschenden Momenten auf: England ist das einzige Land der Welt, in dem es lange Zeit Fachgeschäfte für Frettchenartikel gab, etwa eine Million Engländer halten sich diese domestizierten Iltisse. Mittlerweile ist das Angebot – Ferret Supply – wie vieles andere ins Internet gewandert. Zwei angeleinte Exemplare treffe ich in der Innenstadt. Ich meine mich erinnern zu können, von Wettbewerben gelesen zu haben, wer es am längsten mit einem Frettchen in der Hose aushält, ohne Unterwäsche, versteht sich. Wundern würde mich das nicht. Hingegen aber dieses: Wieso hat sich das hübsche Leicester ausgerechnet Krefeld als Partnerstadt ausgesucht? The Beauty and the Beast?

Der Bahnhof erweckt ein wenig den Eindruck, als wäre er in der Zeit Richard III. entstanden. Etwas später wurde Thomas Cook hier geboren, der Schutzheilige aller Pauschalreisenden. Der Zugang zu den Gleisen ist diesmal problemlos, die Fahrt nach London dauert eine Stunde.

Insgesamt bin ich froh, diese Reise unternommen zu haben, bald muss man eh nirgendwo mehr hin, es ist überall die gleiche Soße, die gleichen Geschäfte, die gleichen Moden, dieselben Verhaltensmuster. Sogar „Gefragt, gejagt“ aus dem Vorabendprogramm ist ein internationales Format, dass in Deutschland fast genauso abläuft wie in Großbritannien. Good morning, Mr. Breuer. Andererseits: Acht Tage durch die Heimat des Haferbreis, und wie oft habe ich Porridge bekommen? Genau zweimal, im Karlsruher Bahnhof und im Zug nach Holyhead. Mich würde interessieren, was die Royal Society for Cliché Fulfilment dazu meint.

Ich kann den Bahnen auf den Inseln kein schlechtes Zeugnis ausstellen. Das war nicht immer so: An Ostern 2015 wollten ein Lokführer und sein Begleiter nach Banbury in der Grafschaft Oxfordshire nach London, fuhren die Bahn aber nach Swansea in der Gegenrichtung. Der Betreiber First Great Western ließ den Zug nach Banbury zurückbringen. 1998 hatte die englische Bahn Schwierigkeiten mit ihren Intercityzügen, was die Pünktlichkeit anbelangte. Die Manager definierten daraufhin „pünktlich“ neu – innerhalb einer Stunde nach der fahrplanmäßigen Ankunftszeit. Da können die DB-Oberen von lernen. Investition in Gleise? Ja, das gab es in den Zehner-Jahren, als das Wohnen so teuer wurde, dass immer mehr Menschen in die Peripherie ziehen mussten, oder, anders formuliert, an den Rand gedrängt wurden. Die Immobilienpreise waren innerhalb von 10 Jahren um 55% gestiegen, was zu Wohnungsnot in den Städten führte. Da hat man dann mehr als eintausend Kilometer wieder in Betrieb genommen. Dem Bahnvorstand der DB wäre eine Orientierungsreise zu empfehlen.

Im Gare de l’Est eine aufbauende Szene gegen den Abschiedsschmerz: In vielen Bahnhöfen haben sie plaisirhalber Pianos aufgestellt, erstaunlich viele Leute nutzen sie und viele von ihnen spielen recht ordentlich. Gerade schart sich eine Schulklasse um einen Stutzflügel, zwei junge Damen spielen vierhändig, dann nehmen andere auf dem Hocker Platz, das Niveau ist gut, alle blicken beglückt, das ganze wird mit dem Handy aufgenommen, und ich schnappe ein paar Wortfetzen auf – es ist deutsch. Das versetzt mich in eine positive Stimmung für die Rückreise, irgendwie gibt es Hoffnung.

 

 

Hier der inoffizielle Soundtrack:

01 Fawkes: TGV – 02 The Fureys & Davey Arthur: Euston Station – 03 Amazing Blondel: Spring Season – 04 Bonnie “Prince” Billy: London May  – 05 Jon Bud: Holyhead – 06 Pairdown: Holyhead Ferry  – 07 Alan Marshall: Ghosts Of Dublin – 08 The Waterboys: Postcard From The Celtic Dreamtime  – 09 V98:  Dublin – 10 Kronos Quartet w/ Olivia Chaney Belfast – 11 Joby Fox: Belfast – 12 Patrick Gardiner: Riverside Remark – 13 Admiral Fallow: Guest Of The Government – 14 Deacon Blue: The Great Western Road – 15 King Creosote: For One Night Only – 16 Siobhan Miller: The Western Edge – 17 Brian McAlpine: Dumfries And Galloway – 18 Admiral Fallow: Taste The Coast 19 Hamish Napier: The Station – 20 Emma Pollock Hug The Harbour – 21 Del Amitri: Missing Person – 22 Fuzzy Sun: Cairnryan – 23 Siobhan Miller: Cold Blows the Rainy Night – 24 Neon Skies: Stirling – 25 Emily Smith: Reres Hill – 26 The Housemartins: Sheep – 27 North Parade: Birmingham – 28 The Brian Jin: Birmingham New Street – 29 Rosemary & Garlic: Midlands 4:17 – 30 Littlefolk: Leicester ­– 31 Kathleen Edwards: Traveling Alone – 32 Gerry & the Pacemakers : You’ll Never Walk Alone – 33 Puss N Boots: Leaving London.