Radio Mélange

Ein kurzer Rundflug durch meinen Radio-Orbit zwischen 1973 und 2024. (Lesezeit etwa 15 Minuten.)

Zunächst mein schlimmstes Radioerlebnis. Zehn Uhr morgens, normalerweise bin ich um die Zeit längst aus dem Bett bzw., an Tagen wie diesem im Carlton in Köln, wo sich die Büros der Unterhaltungsredaktion des WDRs befinden, denn heute moderiere ich die Unterhaltung am Wochenende, kurz UaW genannt. Im Augenblick ist Köln leider weit weg, drei Stunden mit der Bahn. Dem Wachwerden zum richtigen Zeitpunkt stand am Vorabend die Premiere befreundeter Kollegen im Wege, oder eher deren Premierenfeier. „Bachor!!“ Eine Stimme wie ein heruntersausendes Fallbeil. „Wo steckst du denn?“ Siedend heiß fällt es mir wieder ein, aber erst, als ich barsch darauf hingewiesen werde: „Du hast doch mit Harald den Termin getauscht!“ Da bin ich schon halb in der Hose drin, und eine halbe Stunde später sitze ich klopfenden Herzens im Zug, persönliche Bestzeit. Als ich um halb zwei beim Italiener in Köln auflaufe, ist die Sendung schon verplant, da kann ich nichts mehr machen außer durchmoderieren. Geht auch, und spart mir viel Geld, denn für das Essen beim Italiener bleibt keine Zeit, mir ist eh noch leicht übel vom Feier-Abend.

Jahre zuvor, gleiche Stelle, gleiche Welle: Gerade ist durch die Presse gegangen, dass der französische Sänger Michel Sardou sich für die Todesstrafe ausgesprochen hat. Wir sitzen im Carlton, Hilmar Bachor hält mir eine LP hin: Sardou. „Den spiele ich nicht!“, sage ich und erkläre warum. Es hilft natürlich nichts, als Redakteur hat er die Befehlsgewalt. Wir pflegen generell unsere Spielchen: Ich selbst schlage erst einmal zwei Titel vor, an denen mir wenig liegt, beim dritten pflegt er einen Anflug von Mitleid zu zeigen. In dem Rhythmus geht es weiter. Jedenfalls ist Sardou gesetzt und damit der Ton für den Tag. Aus der DDR ist Barbara Thalheim zu Gast, leider reichlich verkatert. Am Abend vorher hat sie in Baden-Baden bei Elke Heidenreich gegen ihren Arbeiter- und Bauernstaat vom Leder gezogen, und da hat sie sich wohl gedacht, dass sie sich anderntags zum Ausgleich die Bundesrepublik vorknöpfen muss, Redefreiheit, politische Gefangene in der BRD usw., damit die DDR-Grenzer sie anderentags wieder in die Zone zurücklassen.

Bachor schäumt im Kopfhörer. „Was redet die da? Da musst du eingreifen. Das kann sie doch hier nicht machen …“ usw. Mit ihm auf den Ohren höre ich freilich nicht, was die Thalheimsche redet, folgerichtig kackt das Interview ab. Natürlich hätte ich die Kopfhörer abnehmen und ans Mikrofon klemmen können, aber ich war relativ neu hier, nicht so abgebrüht, eher sogar ängstlich – und das wär’s dann gewesen mit dem WDR. Es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis sie mich wieder ans Mikrofon gelassen haben, und das nur dank der Fürsprache von Hanns Dieter. Vielleicht hielt sogar Wolfgang Pahde seine schützende Hand über mich, der Leiter der Abteilung, der seine Jugend ebenso wie ich in Bad Ems verbracht hatte, das verbindet. Mein erster Gast nach der Dürreperiode: Barbara Thalheim. Die schaut mich kurz an und sagt dann: „Reden müssen wir ja heute nicht!“ Exakt.

Die UaW gibt es seit – gefühlt – dem beginnenden 20. Jahrhundert, also schon vor der Erfindung des Radios. Sie existiert heute noch, wenn auch mit anderem Konzept, Live-Shows „in der Fläche“, d.h. sie tingelt durchs Land. Gute Idee übrigens, wegen der Hörerbindung. In den 80ern aber wurden die Sendungen meist im großen Hörspielstudio 5 aufgezeichnet, wo Geräusche noch von Hand gemacht wurden: Da gab es verschiedene Treppen und Böden für Schritte auf Sand, Schotter, Asphalt Holz. Funkhaus am Wallraffplatz, damals noch ohne aufwendige Kontrollen, rein in den Paternoster (mein erster!), vorbei an einer Tür mit der kryptischen Aufschrift „Zutritt bei rotierendem Tisch verboten“.

Alles neu, alles aufregend, etwas einschüchternd, selbst wenn der Tisch bei uns fest verankert war. Jürgen von der Lippe, damals einer der Moderatoren, hatte mich im Dezember 1980 eingeladen, und nach dieser Sendung, hassenichgehört, war ich grad selbst einer. Ich hatte keine Ahnung, wie man so was macht, ich habe mir fein säuberlich jeden Satz aufgeschrieben und vermutlich sogar die Kommas mitgesprochen, beweglich wie ein Sack Zement. Freier sprechen, das dauerte Jahre. Interviews führen, Signale an die Technik zum richtigen Zeitpunkt – das war „making by doing“ oder umgekehrt. Bis in die Nuller Jahre ging das, und dann noch mit dem neuen Konzept – Liveshows in Lüdinghausen, Soest oder Hilchenrath-Lützel, extern produziert von der Radiobühne – bis November 2018, und dann war Schluss für mich, in Minden, aus freien Stücken. Zu etwa der Zeit hat mir ein treuer Hörer eine CD mit meiner ersten Sendung als Gast am 6.12. 1980 geschickt: Meine Güte, alles in Zeitlupe.

Wobei: So ganz unvertraut war mir das Medium nicht. Bereits Ende der 60er Jahre hatte der Südwestfunk im Staatlichen Kursaal Bad Ems mit der Sendung Frohes Wochenende gastiert, wo ich hinter den Kulissen herumlungern durfte. (Hä? Kulissen beim Radio?) Das fand ich sehr aufregend. Mein erstes Geld verdiente ich beim Südwestfunk am 8. Juni 1973 bei einer Sendung namens 20:1 – Hörer machen das Programm. Welches Programm – keine Ahnung. Ein Jahr später habe ich für denselben Betrag einen Text von Joni Mitchell übersetzt. Wenig später, um 1975, der erste Besuch im Funkhaus mit einer Koblenzer Band, von der ich annahm, dass sie mich als ihren Manager betrachteten. Ich tat so, als würde ich diesbezüglich über hervorragende Kenntnisse verfügen.Das Funkhaus in einem malerischen Seitental hätte auch eine Lungenheilanstalt sein können, überhaupt kamen nicht wenige Sendehäuser wie Sanatorien daher – allen voran Saarbrücken.

Ab 1978 lieferte ich bei SWF3 komische Texte ab, ich weiß nicht mehr, wer mir die erste Glosse abgekauft hat, Michel Bollinger oder Dietrich Förster. (Letzterer ermahnte mich einmal: „Ihre Texte sind wie die Markenautos aus Stuttgart: Immer perfekt – und immer gleich!“) Der erste von vielen nannte sich die „Kochbuchtipps“, am 7. Oktober 1978. Zunächst nahm ich die Beiträge im Regionalstudio Trier auf, wobei mich die Technikerin die ganze Zeit hasserfüllt anstarrte – jedes Mal. Da war ich froh über den Umzug nach Heidelberg, der problemlose Anfahrten nach Baden-Baden gestattete. Das funktionierte bis 1994, als Walter Schumacher, Freund und Förderer, ohne Ablösesumme nach Mainz in die Politik wechselte.

Obwohl überwiegend eine Sendeanstalt für die Vermittlung christdemokratischer Werte, wir schrieben die 70er Jahre, erlaubte man sich etwas hochmütig aufrührerische Elemente wie Elke Heidenreich und Bernd Schroeder, von denen man glaubte, dass sie keinen Schaden anrichten würden. Weit gefehlt. Die beiden Ministerpräsidenten, die 1975 für den Südwestfunk zuständig waren, hießen Hans Filbinger, bekannt durch seine Erstkarriere als „furchtbarer Jurist“ (Rolf Hochhuth) und Helmut Kohl, der weniger später die Privatmedien lancierte und förderte. Was SWF3 anbelangt – zum Glück hat damals in den Staatskanzleien   niemand genauer hingehört. Gut, da wurde nicht gerade zur Revolution aufgerufen, aber Nischenprogramme stellten politische Liedermacher und Blues vor, es gab eine Frühform von zuvor nie gehörter Comedy, aber eben nicht nur: Da war viel Subversives dabei, was die Sittenwächter schlicht nicht kapiert hatten. Und damit zurück nach Köln.

Hilmar Bachor war gefürchtet, und ich wohl der einzige „Freie“, der je mit ihm mehrere Tage unter einem Dach verbracht hat, sogar in zwei Schüben 1989 und 1991 in Edinburgh anlässlich des Fringe-Festivals, bei dem wir für den WDR Konzerte und Standup-Comedy aufzeichneten, warum auch immer, aus denen ich dann Sendungen machen durfte. Bachor am Stück über mehrere Tage verteilt –für dieses Martyrium genoss ich so etwas wie Heldenstatus im Haus. Die meisten KollegInnen hätten einen 14-tägigen All-Inclusive-Urlaub auf der Teufelsinsel vorgezogen. Der jeweils erste Abend verlief zivilisiert, beim zweiten begann es schon auszufransen und ab dem dritten zog man sich gezielt aus der Schußlinie. Bachor, das war permanente Gereiztheit, Hypertonie in Vollendung, leicht entflammbar also, sehr viel Riesling, auch vor der Sendung und ggf. während, bei der er sich – unfassbar dämlich – schon mal mit der Technik anlegte. Vom Aussehen her erinnerte er mich immer an ein Cover der englischen Band Gentle Giant:

Der Samstag funktionierte so: Plattengefeilsche im Carlton, Essen gehen beim möglichst teuersten Italiener der Stadt, einer von ihnen hieß tatsächlich Innozenzo Potenza und servierte Steaks auf heißen Steinen. Beim ersten Mal war ich vorgewarnt: „Nimm ordentlich Geld mit!“, hatte ein Kollege gesagt. Später traf man sich beim legendären Gigi Campi, da ging es ziviler zu bei den Preisen, und Gigi war ein Schatz. Offenbar mochte Bachor mich, sonst hätte er mich nicht ins kalte Wasser gestoßen. Wen er leiden konnte und wen nicht, das war nicht vorhersehbar und gehörte wohl zum Prinzip. Ein weiteres Kriterium: Der Pegel. Nie durfte man seiner sicher sein, weshalb viele vor ihm gezittert haben. Ich auf alle Fälle, mit manch schlafloser Nacht vor der Showtime. Das stets untertourig giftige „Ja, sicher!“ habe ich heute noch im Ohr, eine rheinische Unart, die dem Gegenüber sublim unterstellt, man stünde auf der Leitung. Bei der UaW war diese Leitung mein Zweitwohnsitz, es gab keinen Informationsfluss aus Köln, was Änderungen der Sendung betraf, und wenn man nicht ständig, was viele KollegInnen taten, wie zufällig samstagmittags vor dem aktuellen Italiener herumgeierte, bekam man vieles nicht mit und wurde erst kurz vor Showtime vor vollendete Tatsachen gestellt: „Ja, sicher!“ Künstlerpflege? Fehlanzeige. Das wäre ohne die KollegInnen und Redaktionsassistentinnen wie Verena oder Ulla nicht auszuhalten gewesen.

„Hille“ Bachor, das war andererseits exquisites Fachwissen und ein Gespür für Künstler, ein großer Entdecker mit eingespieltem Netzwerk, „connections“ hieß das zu der Zeit. Künstler aus den Ländern im Osten waren häufig zu Gast. Wenn man auf den Straßen rund ums Funkhaus das charakteristische Geknatter eines Trabants hörte, war dessen Ziel klar: Das Funkhaus am Wallraffplatz. Ihm kam das Verdienst zu, den Eisernen Vorhang etwas durchlässiger gemacht zu haben. Bachor stand für irrwitzige Ideen und Konzepte, an Geld herrschte ja kein Mangel. Zehn Sendungen Fringe Festival, in Polen produziert (Warschau im Dezember 1989, das war gewöhnungsbedürftig) – später fragte mich Georg Bungter, nachdem er Chef der Abteilung geworden war: „Sach mal, lohnt sich das für uns?“, was ich natürlich verneinen musste. Da der WDR im Ausland keine Gagen zahlen durfte, wurde eine Produktionsfirma zwischengeschaltet, ein Freund von ihm aus Polen, Jan Zylber. Schauspieler, Manager von Marek & Vacek, Unternehmer, ein wunderbarer Mensch, der sich beharrlich weigerte, Deutsch zu sprechen, obwohl er jedes Wort verstand, was kein Wunder war, da er als Kind im Kleiderschrank versteckt miterleben musste, wie SS-Schergen seine Eltern aus der Wohnung zerrten. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen, ein humorvoller Mann trotz allem, der selbst die Pogrome im späteren Polen weggesteckt hatte, ein Stehaufmann mit unbändiger Energie und Humor.

Es gab Gerüchte, die mich im fernen Heidelberg selten erreichten, ich nahm ja nicht am Kölner Tagesgeschehen teil. Unklar war, wieso „Hille“ lange Zeit im Hansa-Studio in Berlin Texte produzieren musste, einem der teuersten in Deutschland, als hätte es rund ums Funkhaus – oder in der gesamten „Kölner Bucht“ – nicht genügend externe Studios gegeben. Für mich sah das so aus: Morgens Heidelberg, Flieger Frankfurt-Berlin, Taxi zum Studio, Aufnahme, Taxi zurück, Flieger Frankfurt, Zug Heidelberg, voilà, zum Glück weit vor der Erfindung der Flugscham. Solche und andere Geschichten hatte wohl sein Kumpel Wolfgang E. eingefädelt, mit dem er manch anderen Deal eingetütet hat, womöglich nicht immer ganz sauber, die Radiogeschichte kennt das unschöne Wort „Payola“. Angeblich ist Hilmar Bachor nur knapp an der Annullierung seiner Pension vorbeigeschrammt, vielleicht kann mich wer aufklären, ich bin ja kein Enthüllungsjournalist, es spielt letztlich hier keine Rolle. Klüngelwirtschaft scheint ein erfolgreicher Kölner Exportartikel zu sein.

Vor keinem Redakteur hatte ich jemals wieder Angst, und von keinem Redakteur habe ich mehr gelernt, was man tun und was man tunlichst lassen sollte. Er hat sich was getraut, einiges herausgenommen, andererseits hat er einen machen lassen. Das funktionierte, weil es damals mehr Freiräume (und Grauzonen) gab. Ein Pionier. Reinhard Mey schreibt auf seiner Webseite: „Ich erinnere mich in Dankbarkeit an Hilmar Bachor vom WDR, bei dem ich 12 Lieder einspielen konnte, 200 Mark gab es pro Lied, das war eine Riesengage, die dem „armen Poeten“ auf längere Zeit das Überleben sicherte.“ Auf der Homepage Porta Poloniaca steht über die Gruppe „Skaldowie Kraków“ zu lesen: „Die letzten beiden genannten Konzerte wurden dank des Redakteurs Hilmar Bachor beim WDR in Köln aufgenommen.“ Spuren hat er also schon hinterlassen. Im Spiegel #7 von 1965 lesen wir den Satz: „Nunmehr, fast zwei Jahre nach der inkriminierten Sendung, hat der Kölner Oberstaatsanwalt Dr. Kraemer die Anklageschrift gegen Rexhausen und den für »Blasrohr« verantwortlichen Redakteur Hilmar Bachor fertiggestellt. Den Prozess wird Rexhausen nicht mehr als WDR-Autor erleben. Der Westdeutsche Rundfunk hat sich von dem Satiriker getrennt, der inzwischen beim Kölner Stadt-Anzeiger untergeschlüpft ist.“ (Das Verb in diesem Zusammenhang begeistert natürlich.)

Namedropping Eins: Elke Heidenreich. Hanns Dieter Hüsch. Konrad Beikircher. Wendelin Haverkamp. Jürgen von der Lippe, Harald Schmidt u.a. im Team. Als Gäste die gesamte 1. und 2. Liga des Kabaretts, die DDR-Oberliga. Liedermacher, Komiker, Poeten, Literaten wie Otto Jägersberg. HaPe Kerkeling saß hier noch vor dem Abitur bei uns im Studio. Usw.

Das Kontrastprogramm zu Bachor war Kurt „Kuddel“ Postel, mit dem ich viele Abendsendungen machte, ein gütiger väterlicher Typ, jedenfalls wirkte er so, ein Gemütsmensch – mit ihm durch die Flure im Funkhaus zu gehen, konnte Stunden in Anspruch nehmen, weil er wirklich jeden kannte und gerne ein Schwätzchen hielt, so dass man auf den letzten Drücker im Studio ankam – bei Live-Sendungen. Knapp vorher haute er schon mal Sätze raus wie „Hast du das gehört mit dem Michael Thomas? Den haben sie gestern tot in der Badewanne gefunden.“ Rotlicht an – die Anmoderation habe ich gleich in den Sand gesetzt, müßig zu erwähnen, dass ich den Mann gekannt und sehr geschätzt habe. Oft fiel ihm drei Minuten vor den Nachrichten ein, dass er etwas im Carlton – etwa drei Fußminuten vom Funkhaus – vergessen hatte. Erst später erzählte mir jemand, dass innerhalb dieser geringen Distanz ja das „Lederer“ beheimatet war, eine Art Funkhaus-Dépendance mit „Kölsche Spezialitäte“ seit 1468, darunter eben: Kölsch. Ja sicher! Von Kuddel habe ich mir den Namen dieses Kapitels ausgeliehen: „Da machen wir heute mal eine schöne Mélange!“

Aus meiner Zeit bei SWF3 und kurz auch SWR1 (sowie anschließend SDR, denn nach der Fusion betraf das einige Mitarbeiter, die sozusagen zwangsumgesiedelt worden waren), weiß ich, dass nicht wenige Redakteure alles daransetzten, nicht in Baden-Baden wohnen zu müssen, sondern lieber im Umland, das sich bis Karlsruhe und Straßburg ziehen konnte. Hilmar Bachor nahm den anderen Weg, von Köln nach Baden-Baden, wohl wissend, dass er in einer überalterten Stadt eine bessere Infrastruktur finden würde. Irgendwann Mitte der 90er ist er aus meinem Leben gekippt, weil es andere Redakteure wie Hans Jacobshagen oder Axel Naumer gab, mit denen eine gedeihlichere Zusammenarbeit möglich war. Den beiden habe ich viel zu verdanken, auch im Bereich Entspannung. Im Gemeindebrief der Evangelischen Luthergemeinde Baden-Baden sind die Traueranzeigen aus Datenschutzgründen unkenntlich gemacht, trotzdem kann man im Gemeindebrief 0091 vage erkennen: 21.12.2022 Hilmar Bachor 86 Jahre.

Songpoeten

Mit dem Westdeutschen Rundfunk hatte ich ab 2019 lediglich passiv zu tun – dank der beglückenden Sendung Songpoeten auf WDR4 – wenn Purple Schulz sie moderierte, einmal im Monat, und nur dann. Radio, wie es sein sollte: Engagiert, erfrischend, mit Herz und Herzblut, überraschend, klug, mit Haltung – und er vermittelte einem bei jeder Sendung mindestens eine Zufallsbekanntschaft. Ohne Purple hätte ich alte Bekannte wie Stoppok, Maurenbrecher oder Heinz Rudolf Kunze nie wiedergetroffen, nie etwas vom Joni Project aus Hamburg gehört oder Sängerinnen wie Fee, Liedermachern wie Florian Glässing oder Felix Meyer und vor allem nicht von Jacob Collier, der bei uns längst ein Haushaltsname geworden ist. Leider hat Purple die Sendung aufgegeben.

 

Radio Elch

Die schärfsten Kritiker der Elche / Waren früher selber welche.      F.W. Bernstein

Am 11.3.1981 bittet mich die Provinzial (Untertitel Feuerversicherungsanstalt der Rheinprovinz), bei der ich einen Antrag auf eine Privat-Haftpflichtversicherung gestellt hatte, ihr mitzuteilen, „ob ich meine Tätigkeit als freiwilliger Schriftsteller noch ausübe?“ Freiwillig? Ja, sicher! Die Glossen für SWF3 waren ein großer Teil dieser Tätigkeit, sie waren regelmäßig zu hören in der Litfaßwelle, in der Funkboutique, im Radio Kiosk, im Rasthaus (eine staubegleitende Radioshow zum Feierabendverkehr), im Radioclub, sogar im Pop Shop, wo eine meiner frei erfundenen Nachrichten den Moderator (evtl. Bernd Mohrhoff) vor Lachen aus der Kurve getragen hat, als ich die Band „Spandau Ballet“ kurzerhand in „Landau Spagat“ umbenannte. Der zweite Moderator, den ich zum Prusten gebracht habe anlässlich einer WDR-Live-Schalte eines Pokalspiels, war Werner Hansch, mit irgendeinem Scherz über Parkstadion und Parkhaus. Es gibt nicht viel, auf dass ich stolz bin, aber das hat mich tatsächlich ein wenig stolz gemacht. Nachrichten und falsche Wetterberichte waren meine Kernkompetenz und sogar – in der Interpretation von Andreas Müller – noch bis in die Zehner Jahren zu hören. Ein weiterer Höhepunkt: In einer Filiale der Bäckerei Rieger in der Kaiserstraße in Heidelberg hat mich ein Blinder bei meiner Bestellung an der Stimme erkannt. Wer kann das schon von sich behaupten?

Namedropping Zwei: Unter der Ägide von Peter Stockinger entwickelte sich SWF3 zur Talentschmiede. Elke Heidenreich (mit Bernd Schroeder), Anke Engelke, Frank Plasberg, Frank Laufenberg, Stefanie Tücking, Evi Seibert, Andreas Ernst, Walter Schumacher, Claus Kleber, Christian Sievers und und und, mit durchaus subversiven Konnotationen, für mich allesamt Pfadfinder im wahrsten Sinne des Wortes. Mutmaßlich hat der Begriff „Kult“ durch SWF3 einen fundamentalen Bedeutungswandel erdulden müssen. Ich schrieb Glosse um Glosse und sprach sie meist – um die 600 müssen es gewesen sein, ich führe nur halbherzig Buch. Ein winziger Krümel aus meinem Humorhumidor: „Die gemeldete Störung auf der A5 in Höhe des Kernkraftwerks Biblis besteht nicht mehr. Es besteht auch keine Autobahn mehr.“ (1980) Ich war nie an vorderster Front, aber gemeinsam mit Walter Schumacher oft live im Flohmarkt am Sonntagmorgen zu hören.

Noch ein Walter, mit th: Ohne Walther Krause, der sozusagen das prä-natale SWF3 erfunden hatte, wäre das nie was geworden, der Mann traute sich was. Er förderte oder entdeckte Talente wie Frank Laufenberg und ließ sie einfach machen. Später wechselte er zum Deutschlandfunk. SWF3 war aus dem Stand rasend erfolgreich, von der Schweiz bis in die berühmte „Kölner Bucht“. Zumindest bis in die 90er, als die Misere mit den Privaten anfing. Danke für gar nichts, Helmut.

Kurt Kister schrieb am 1. Februar 2025 in der Süddeutschen in seiner wunderbaren Kolumne „Deutscher Alltag“: „Die Zeitung, gedruckt oder digital, wird es so lange geben, wie sie nicht nur schnelle Dienstleistung, Erklärung und Lebenshilfe bietet, sondern Teil der Welt des Lesens bedeutet. User needs erfüllen können viele. Es kommt, auch gerade bei der Zeitung, auf reader needs an.“ Beim Radio ist das kaum anders: Bei den heutigen Programmen kann man kaum von einer Welt des Hörens sprechen. Aber SWF3 Mitte der 80er Jahre – fast ein Fall für die UNESCO, Abt. Immaterielles Weltkulturerbe. So etwas hatte es vorher noch nie gegeben im deutschen Radio: 100 % „listener needs“.

Irgendwann in den späten 80ern dann Auftritt Privatradio. Fortan schwärmten Radio-Neuerfinder vom Formatradio – dabei muss man freilich vorsichtig sein, was den Gebrauch von Präpositionen angeht: Es ging nicht um Sendungen von oder mit Format, sondern nach. Die Gleichförmigkeit, die mir Dietrich Förster zu Recht angekreidet hatte, wurde allmählich Programm (auch im wahrsten Sinne des Wortes). Als nächstes schickten sie das Schlagwort „Durchhörbarkeit“ in die Umlaufbahn, eine Steilvorlage für Witzemacher: Durchs rechte Ohr rein, durchs linke wieder raus, bzw. umgekehrt. Die im Oberstübchen versuchten allen Ernstes, den Privatsendern mit den Mitteln der Privatsender Konkurrenz zu machen – mit „user needs“ (siehe Prinzip Teufel / Beelzebub) Was für eine idiotische Idee! Viele SprecherInnen wurden in Nürnberg geschult, und da stand wahrscheinlich das Fach „Gute Laune“ ganz oben auf dem Lehrplan. Sie klangen alle gleich, sogar von der Tonlage her, und die meisten Radioprogramme glichen Fußgängerzonen: Die ewig gleichen Produkte in den ewig gleichen Läden, damit sich jeder gleich und auf ewig zu Hause fühlen konnte.

Kleiner Einschub: Übelradio  (unveröffentlicht, 13.04.2016)

Lasst euch bloß nichts einreden: Die Übellaunigkeit wird von böswilligen Zeitgenossen miesgemacht. Gute Laune ist überschätzt. Seit vor Jahrzehnten schon diese penetrante Verbreitung positiven Denkens, die wir den Amerikanern zu verdanken haben, über unsere Alltagskultur ge­schwappt ist, dieser auf­gestellte Daumen in Dauererrektion, während der Mund routiniert alles weglächelt, in solchen Zeiten gerät der gute, alte Griesgram allmählich außer Mode. Okay, Grumpy Cat, Angry Birds, aber das war’s dann. Das alles macht die Laune nicht besser. Mangelndes Grinsen hat John Kerry 2004 die Präsidentschaft in Amerika gekostet. Wie hatte Billy Crystal ihn während eines Spendendinners in Hollywood angesprochen: „Wenn Sie so etwas wie Freude empfinden sollten, sagen Sie es bitte Ihrem Gesicht!“ Unvergessen ist dieser herr­liche Satz der amerikanischen Dipl.-Vorden­kerin Shirley McLaine in dem Film Steel Magnolias: „Ich bin nicht verrückt, ich bin nur seit über 40 Jahren schlecht gelaunt!“

Es gibt einen Fisch, der den schönen Namen „Dickkopf-Stachel­makrele“ trägt. Der ist ganztags grätig. Beneidenswert. In den USA kann man sich ja die Zornesfalte chirurgisch entfernen lassen, bzw. den Muskel, der dafür zuständig ist. Meine Zornesfalte hat seit der Erfindung des Privatradios vertieft, weil dort die meisten Moderatoren auf ihrer eigenen Schleimspur daher gekrochen kommen. Dieses Geflöte, Gezirpse, Gegniedel und Gequatsche, die Hallöchens und Tschüssis, es wird von Tag zu Tag schlimmer. Ich träume seit langem von einem übellaunigen Spartensender, Ferien vom nett.

Die Moderatoren: wandelnde Tiefdruckgebiete, die mit einem lauernden Unterton die Hörer fortgesetzt anblaffen. So charmant wie eine Rede von Bernie Sanders, empathisch wie Carsten Maschmeyer. Shady Girls statt Sonny Boys. Die Shows live aus Misaintropez oder Bruchmühlbach-Miesau, unlustig präsentiert von Miesepetern, Ätzbischöfen, Ekelpaketen. Wahl des Unsympathen des Tages. Wohlfühl-Depressionen für Jedermann. Kleine Demotivationshilfen für den Alltag. Aggressionstraining einmal anders: Wie kann ich meine Wut beflügeln? Als Serviceleistung frei erfundene Verkehrsmeldungen, also gezielte Irreführung. Dazu falsche Uhrzeiten. Noch besser: Gefakte Lottozahlen. Ein Morgenmagazin namens Mundgeruch. Musik vorwiegend vom Schreichor aus Oulu in Finnland. Jede Nacht große Modern-Talking-Night. Zum Start in den Tag gleich frühmorgens der „Übel-Kübel“ – mit Beschimpfungen aller Art. Kochrezepte, die nicht aufgehen. Mit Gift und Galle von grätigen Fischen, abgerundet von Verdauungs­geräuschen. Schade, dass Radio keine Gerüche verströmen kann. Mir allerdings würde für schlechte Laune ebenso irgendein Privatsender reichen. Aber dazu müsste ich ihn einschalten. Nein, danke. Und damit zurück nach Baden-Baden.

Radio Felsnase.

Telefunken Concertino 53. Wechselstrom Super, sieben Röhren, sechs Tasten: Aus. Platte. Lang. Mittel. Kurz. UKW. Anschlüsse für Außenantenne, Ferri Antenne. KW-Lupe. Hinweis: Gefahr! Nur für Lautsprecher nach DIN-Norm. Auf der Skala drängelten sich: Droitwich. Hilversum. Beromünster. Sundsvall. Daventry. Kuldīga. Monte Ceneri. Kalundborg. Orte, die die Sehnsuchtsakkus aufluden, obwohl ich viele Namen gar nicht verorten konnte in meinem Diercke. Der ultimative Trost: Es gibt eine andere Welt da draußen. Unser Hotel befand sich senkrechte zweihundert Meter über der Stadt Bad Ems, auf einer Basaltnase, die sich ins untere Lahntal reckte. Ich war somit isoliert, der Fußmarsch hinunter in die Stadt dauerte an guten Tagen eine halbe Stunde, hinauf fünfzehn Minuten länger. Anfang der 90er kam der Song „Listen To The Radio“ von Kathy Mattea (aus der Feder von Nanci Griffith) in die Hitparaden: „And when you can’t find a friend /You’ve still got the radio.” Klingt ein bisschen melodramatisch, aber genau so war’s. Dafür aber: Ausgezeichneter Radioempfang: Ö3 an manchen Tagen – auf UKW! Heute weiß ich natürlich, dass sich Beromünster im Kanton Luzern versteckt und einen Bahnhof hat ohne Schienen. Monte Ceneri liegt im Tessin: Landessender für die italienische Schweiz, 2008 eingestellt. Daventry (BBC World Service, am 28. März 1992 geschlossen) und Droitwich befinden sich in England, letzteres in der Grafschaft, wo die Worcestersauce herkommt. Sundsvall im Norden Schwedens, Hilversum im Norden der Niederlande. Lässt sich alles leicht googeln heute.

Den Telefunken Concertino 53 hat meine Mutter 1954 bei einem Gedichtwettbewerb der Zeitschrift Constanze gewonnen, die von März 1948 bis Dezember 1969 in den Kiosken auslag, angeblich sogar von Männern gelesen, bis sie als nicht mehr zeitgemäß empfunden und eingestellt wurde. Nach dem Gedicht kann ich meine Mutter leider nicht mehr fragen. Regelmäßig gehört hat sie „Music In The Air“ (AFN) und die „Leichte Brise aus Südwest“ (SWF). Geräte von Telefunken werden heute nur noch in der Türkei hergestellt. Um 1964 kam ein Plattenschrank (mit Wechsler) ins Wohnzimmer, und der alte Apparat wurde mein erstes Erbstück, aus warmen Händen, heißgeliebt.

Da wurde z.B. samstagabends eine Radioshow ausgestrahlt, von der meine Kumpels  nie erfahren durften, wie leidenschaftlich gern ich sie hörte: Allein gegen alle, schon der Titel war programmatisch, sozusagen meine Lebensumstände griffig zusammengefasst. Die Idee der Show: Ein Schlaumeier nimmt es mit einer ganzen Stadt auf und stellt ihr fünf Fragen, welche von den Bürgern dieser Stadt beantwortet werden müssen, und wenn die nicht zu Potte kommen, erhält der Schlaumeier die gigantische Summe von 20 Mark. Dazu gibt es eine Sonderaufgabe für die ganze Stadt – z.B. zwei Dutzend Werbesprüche in Reimform zu erfinden und binnen einer Viertelstunde im Sauseschritt zu einem markanten Platz zu bringen, wo Außenreporter warten, die solide Namen wie Horst Braun oder Helmut Fleischer tragen. Der Moderator ist allerdings deutschlandweit bekannt: Hans Rosenthal. In Delmenhorst suchen sie 25 Mitbürger, die mit einem Löffel zum Hochhaus an der GeWoBa-Siedlung antanzen sollen, um dort in einer Art Gruppenexperiment einen Löffel Dorschlebertran zu sich zu nehmen. Da müssen Sadisten in der Redaktion sitzen. Eine durch und durch gesunde Sendung also. Was das Hochhaus an der GeWoBa-Siedlung angeht: Man kann sich recht gut ausmalen, wie es da ausgesehen hat.

Im Herbst bekam ich immer mein altes Zimmer zurück, das während der Saison an irgendwelche Köche oder Kellner vergeben wurde. Höchstens sechs Quadratmeter, aber immerhin. Nach irgendeiner Schulschwänzgeschichte musste ich mein Radio auf den Speicher stellen, Höchststrafe. Gleich am nächsten Ruhetag holte ich es wieder zurück. Es gelang mir, mein Zimmer so umzubauen, dass es niemandem auffiel, kein leichtes Unterfangen, es war ein voluminöser Kasten – aber es war ja für einen guten Zweck. Natürlich durfte ich die Musik nicht laut hören, es war eher wie … Feindsender. Tatsächlich war das Gegenteil der Fall.

Das Grüne Auge

(aus der Rede anlässlich der Verleihung des Salzburger Stiers im Kurtheater Baden-Baden am 24.05.2014.)

Früher nahmen dich die Sender bei der Hand und entführten dich auf wildfremdes Terrain. Das grüne Auge des Radios blinzelte dir verschwörerisch zu und du riskiertest einen Blick durch das grüne Fenster hinaus in die Welt: Zu einer Gedankenübertragung schalten wir um nach … Hans Verres, Teens, Twens, Toptime oder Funk für Fans beim Hessischen Rundfunk (gelegentlich mit Peter Frankenfeld), der Popshop auf SWF3 und Point auf SDR3 berichteten atemlos von verbotenen Früchten in Gestalt von Büchern, Filmen, LPs und unterschlagenen Skandalen …Beim französischen RTL auf Langwelle moderierte ein amerikani­scher Discjockey namens Emperor Rosko mit Hilfe seines Papageis, der lautstark Zelebritäten beschimpfte. Oder Wolfman Jack auf AFN, den man erst nach Mitternacht auf die Vereinigten Staaten losließ – von Mexiko aus: „Let’s boogie the whole night long with the Wolf­man Jack Show!“ (Zum Glück gab es zu jener Zeit keinen Youtube-Kanal. Dort ist Mr Wolfman als Gast von Dick Clark im Jahre 1976 zu sehen, mit einer Fönfrisur, die vielleicht erklärt, warum er fürs Radio gearbeitet hat.) Glühende Drähte, vibrierender Austausch, Haken und Ösen, Ecken und Kanten, Herz und Blut – beim Radiohören fühlte ich mich am weitesten vom Tod entfernt. Dann wurde der Herzschlag durch Rhythmusmaschinen ersetzt. Dürre in der Seele. Irgendwann erklärte mir ein Musikredakteur, die einzigen Klänge, die sich erfolgreich gegen Fahrgeräusche durchsetzen können, seien Umpf-Umpf-Umpf-Umpf. Wobei man froh sein darf, wenn man Musik und Fahrgeräusche überhaupt auseinanderhalten kann.

Ja, glotz bloß, dämlicher Kasten. Was meinst du, warum in „Unterhaltung“ das Wort „Haltung“ drinsteckt? Ich weiß, es geht um Einschaltquo­ten – hat vielleicht wer was von Gleichschaltquoten gesagt? Oder Einfalt­quoten? … Die Privaten sind ja nicht mal privat, nein, sondern leider öffentlich. Gibt’s noch einen Unterschied zwischen öffentlich-recht­lich und nicht­öffentlich-unrechtlich? All diese geschmeidigen, niedlichen Svens und Sandras an den Mikrofonen kann man nicht mehr auseinanderhalten mit ihren total supernetten Gästen oder den megatollen Hörern, die sich ein Lied für jemanden wünschen, der ein lachsfarbenes Siduzu Cabriolet im Raum Eschweiler fährt: „Und zwar wünsch isch misch für meinen 96-jährigen Ur-Grossvater ‘Knocking On Heaven’s Door!’“ Ja, sicher!

Das sind keine Funkhäuser mehr, das sind Telefonzentralen und die Hörer müssen nicht nur Gebühren zahlen, sondern auch das Programm machen. Ich ertrage diese ganzen Dudelsäcke nicht, die ansagen, was angesagt ist – Hauptsache alles voll super-geilo­mat. Ertappe mich öfter dabei, mir Quälmethoden für Gutelaunevirtuosen auszudenken … Ich glaube, heutzutage gibt es Ansagen, damit man weiß, dass ein Titel zu Ende ist, sowie für Uhrzeit, Wetter und Verkehr. Sogar die Wasserstandsmeldungen wurden trockengelegt: „Die Lahn bei Kalkofen: 372, gestiegen fünf.“ Die Verantwortlichen sollten sich lieber Sorgen um Abschaltquoten machen. Radio – was glaubst du eigentlich, wen du vor dir hast? Akusti­sche Analphabeten? Mein Radio zu Hause hat einen Sendersuchlauf – ob der aber einen Sender findet, den man aushalten kann? Nö, das hieße dann ja Senderfindlauf, und ich find’ immer seltener was.

Diese Art Radio wird mir nie gleich sein! Mach das Auge auf, Radio – gleich. Ich will meine olle Beziehungskiste zurück! Radio! Gib mir mein grünes Auge wieder, sonst schlag ich dir ein blaues! Stellt ein Titel jenseits der Playlist vielleicht die Demokratie in Frage? Ist ein Wortbeitrag über 1:30 ein Anschlag auf die öffentliche Ordnung? Wer sagt das? Menno, Radio: Ich will Fleisch und Blut und nicht immer dasselbe vom Ei! Blödes Radio! Wer hat dir gesagt, dass du den Begriff „Äther“ derart wörtlich neh­men musst? Ich will, dass die Drähte glühen. Radio, du servierst bloß Lösungen – in dieser faden Welt aber brauch ich Rätsel!

Hörbeispiel Emperor Rosko: https://www.youtube.com/watch?v=I5XXoqablVw

Hörbeispiel Wolfman Jack https://www.youtube.com/watch?v=QhEYTDcLZFA&list=PLss0IY-NwbdJndMKhMRLbdfUT8DH-IAab

Radio Gaga

Am 30. August 1998, um null Uhr, war Schicht im Schacht und SWF3 Geschichte. Wahrscheinlich hatten sie mit Absicht einen Termin in den großen Ferien gewählt, damit das Gegrummel nicht so groß wurde, jedenfalls in Baden-Württemberg. Als gelegentlicher Zulieferer des SDR, u.a. in Gestalt als Mitwirkender unserer Heidelberger Radioshow Zungenschlag war ich ebenso betroffen. Es gibt einen markanten Satz, der bei mir stets sämtliche Warnlampen blinken lässt: „Machen Sie sich keine Sorgen!“ Den hatten wir ein Jahr zuvor in unserer Show in Heidelberg vernommen, von niemand geringerem als dem SDR-Intendanten Hermann Fünfgeld auf die Frage hin, was sich durch die Fusion für uns ändern würde. Das sah dann so aus: Die Fusion als Elefant im Porzellanladen, fast alle relevanten „Sendegefäße“ zerdeppert, die Samstagabendsendung ebenso wie der Blitzableiter am Freitag, und nur dem zuständigen Redakteur Herbert Antl war es zu verdanken, dass wir nicht alles verloren, denn am Zungenschlag hielt er fest, wahrscheinlich als Teil seines subtilen Widerstands, denn die Fusion war nicht sein Ding. Fünfgeld hatte eigentlich recht gehabt: Sorgen hätten nichts daran geändert.

Zu dem Zeitpunkt habe ich längst keine dritten Programme mehr gehört, erste und zweite ebenso wenig, und der Deutschlandfunk ist mir immer zu bräsig gewesen. Bei Wikipedia findet sich eine Liste der ehemaligen SWF3-ModeratorInnen, nicht jede / jeder hat es zu einem eigenen Eintrag gebracht, und nicht alle weilen noch unter uns. Stefanie Tücking, das ging durch die Presse, aber Andreas Ernst, Gerald Hug, Andreas Dohms oder Woomy Schmitt, das habe ich erst jetzt bei der Nachrecherche mitbekommen. Elmar Hörig, selbsterklärte Legende, hat es anders aus der Kurve getragen, er ist jetzt eher auf der rechten Fahrspur unterwegs, leider.

Ich bin dem Radio untreu geworden, es bietet keine Zufallsbekanntschaften mehr. Viel zu hören, wenig zu entdecken. Keine Ahnung, ob da schon KI-Klone moderieren. Gut, umgekehrt wird auch ein Schuh draus, das Radio ist mir untreu geworden, aber das darf ich nicht persönlich nehmen, die Zeiten ändern sich. Eine Zeit lang habe ich KNBT gestreamt, aus Texas, aber im Zuge fortschreitender Entamerikanisierung ging mir das Gequäke auf den Sender, jetzt höre ich WUMB Boston, zwar auch aus den USA, aber erwachsen, fundiert, immer überraschend und unaufgeregt, wie man halt so ist in New England: 1000 % „Listener needs.“ Nur Musik, keine Kommentare zum Weltgeschehen. Vor allem keine Werbung! Das Ganze wird weitgehend finanziert über die Mitglieder, d.h. wenn Trump erst einmal aufs Public Radio losgeht, weil da ständig Widerworte gegeben werden, kann er denen schon mal keine Gelder kürzen. Da muss er halt die Lizenz einkassieren.

Es gibt einen erfolgreichen Podcast von Gregor Glöckner: Mehr Info unter

Podcastserie „Das Phänomen SWF3“ arbeitet die Geschichte des Erfolgssenders auf

Hier der Sender aus Boston: https://wumb.org/

Meine Wellenlänge (Erstsendung 18.05.1986, SWF3 Flohmarkt)

Eine Oase auf der Skala, Radio Ruhepol. Ein Sender, der schweigt, dessen Schweigen du kaufen kannst, ein akustisches Bermuda-Dreieck in der Radiogalaxie, das große elektromagnetische Loch: du rufst einfach an und wünschst dir eine Schweigeminute, für dich, deine Verwandten, deine Nachbarn, deine Feinde. Nennst deine Kundennummer und lässt die Gebühr vom Konto abbuchen. Du entscheidest, von wem geschwiegen wird, wie lange, wie intensiv und, vor allem, worüber. Kein Sterbenswörtchen über ein Thema deiner Wahl. Du kannst verlangen, dass ein bestimmtes Musikstück nicht gesendet wird. In voller Länge. In diesem Sender wird kein Wort zu viel verloren. Nur Anmoderationen, die sich auf Namen und Themen beschränken. Mehr nicht. Nicht mal weißes Rauschen. Kein Piep! Ganz gleich, ob Kabel oder Satellit. Null. Nada. Niente. Das Schweigen nicht nur der Lämmer. Sag jetzt nichts. Eine Erholung! Dieser Sender, der den Rand hält, würde Schweigen zu Gold machen. Das wäre meine Wellenlänge. Natürlich würden eines Tages die Moderationen ausufern und die Schweigeminuten immer kürzer werden wegen der Umsätze, überhaupt würden alle das Schweigen anfangen in den Anstalten – aber dann komm ich zu dir und wir schweigen uns gegenseitig durch die Nacht in den Morgen hinein, ganz für uns, auf derselben Fre­quenz und halten die Luft an, und jedes Wort, das nicht gesprochen, schwingt stundenlang im Ohr.

Radio Zero.

„Achtung, eine Gefahrenmeldung: Auf der A81 in Höhe der Raststätte Neckarburg kommt Ihnen ein Geisterschreiber entgegen. Bitte fahren Sie äußerst rechts, wir melden, wenn die Gefahr vorüber ist.“

Hej, ich habe keinen Bock auf den Job des alten Zausels, der ständig über Neuerungen wettert. Es ist nicht an mir, Entwicklungen aufzuhalten, wer bin ich schon? Natürlich ist das alles traurig, für mich aber gilt: Ich habe sie mitbekommen, die goldenen Zeiten, Radio mit Leib und Seele. Ja, sicher! Die SpielArt auf WDR5, bei der ich alles machen durfte: Thema aussuchen, literarische Beitäge, die Musik, die Moderation und als Bonus die verschiedenen SprecherInnen, allen voran mein Favorit, Ernst-August Schepmann. Die Live-Shows wie die UaW, der Zungenschlag, Das war’s – war’s das beim Hessischen Rundfunk … Beim HR hat sich gleich der Frankfurter Zweig der Familie versammelt: In der Regie, in der Technik, im Medienbereich. Immer Radio, nie Fernsehen. Oft haben wir das gar nicht mitgekriegt, wir haben einfach gemacht, man hat uns einfach machen lassen, es gab keine idiotischen Formate, keine Shitstorms, höchstens mal Anfragen an die Sendeleitung, die einen natürlich stolz gemacht haben und gelegentlich solidarisch mit Kolleginnen und Kollegen. Einen Moment nicht aufgepasst und das Ganze ist Geschichte. „Don’t it always seem to go / That you don’t know what you got ‘til it’s gone?”, wusste Joni Mitchell schon um 1970, drei Jahre vor meinem ersten Radiohonorar.

Anspieltipp.

Jacob Collier, Little Blue

Der Song hat eigentlich nur am Rande mit dem Radio zu tun. Mein womöglich allerletzter Radiotermin, eine Sendung zur Präsidentschaftswahl in den USA 2024. SRF1 produziert neuerdings in Basel, denn das hier, das gute, alte Radiostudio im Brunnenhof in Zürich, das gibt es nicht mehr:

Die Schweizer sind bloß umgezogen, haben sich aufgeteilt zwischen Zürich und Basel. Die Liechtensteiner waren konsequenter und haben soeben den öffentlich-rechtlichen Rundfunk per Volksabstimmung abgeschafft. Jetzt also Basel, gleich hinter dem Bahnhof, auf der Gundeldinger Seite. Ich habe am Freitag, den 8. November, eine Lesung in Riegel am Kaiserstuhl, montags drauf die Produktion. Zwei Off-days, die ich in Basel verbringen möchte, definitiv keine gute Idee. Das Hotel – City-Inn – eine Frechheit. Schlimmer aber: Keine zehn Minuten, nachdem ich das deutsche Portemonnaie im Bahnhof SBB in meinen Rucksack gesteckt und gegen das Schweizer ausgetauscht habe, wird mir dieser im Caffè Spettacolo gestohlen. Simples Ablenkungsmanöver, einer quatscht mich an von rechts, von links kommt der zweite Mann und „uf wiederluege“ Rucksack (ein Schweizer Produkt, nebenbei). Kreditkarten, Laptop, Kindle, Kopfhörer, Bargeld, sogar das Manuskript für die Sendung. Ein Ereignis, das den Abschiedsschmerz vom Radio lässig überdröhnt.

Am Abend vorher, also am 8. November gastierte der großartige Jacob Collier, die Empfehlung einer Purple-Schulz-Sendung, mit seiner Band in der Messehalle anlässlich der Baloise Sessions. Die Baloise ist unsere Versicherung, Baloise steht für „Basler“ und meint nicht den Mario, sondern die Stadt. Mal schauen, ob da jemand zufällig für meinen Verlust aufzukommen gewillt ist. Vom örtlichen Agenten kommen keine Einwände für den Antrag, dabei hätte er wissen müssen, dass die Baloise Fälle wie diesen nicht abdeckt. Die Arbeit hätte ich mir sparen können, danke dafür. (Was decken Versicherungen tatsächlich ab?) Ich rufe einmal die Konzertgagen von Mr Collier auf und lande bei etwa 240,000 £. Keine Frage, die haben sich die Musiker redlich verdient, und, logisch, viel Geld für irgendwelche Auszahlungen bei irgendwelchen popeligen Versicherungsfällen bleibt da kaum übrig.

Jacob Colliers Basel-Konzert war lange auf ARTE zu sehen, vor allem die Version von Little Blue ist atemberaubend, die Art, wie er mit dem Publikum umgeht, das ihm hingerissen zu Füßen steht. Dabei schaut er bisweilen drein wie Jim Carey, ein Virtuose und Irrwisch, mal wie ein verwuschelter Lausbub, mal ganz der souveräne Chorleiter. Das Lyric-Video ist anders toll, und da übernimmt immerhin Brandi Carlisle den weiblichen Gesangspart.

 

Dankeschöns, über die Jahrzehnte verteilt:

Walter Schumacher, Hans Jacobshagen, Axel Naumer, Herbert Antl, Michel Bollinger, Anina Barandun, Alex Götz, Lukas Holliger, Purple Schulz, die allesamt zur Verbesserung meiner Lebensqualität beigetragen haben. Hilmar Bachor vielleicht nicht so direkt, aber er war wichtig, auch für meinen Lebensunterhalt. Sorry an alle, die ich vergessen habe.

Unvergessen hingegen: Werner Klein, Norbert Scheumann, Benno Kählin, Karl Heinz Schmieding, Uli Urbanski, Kurt Postel, Wolfgang Pahde, Tom Schröder.

Die Texte, soweit nicht anderslautend gekennzeichnet, sind neueren Datums. Korrekturen, Ergänzungen, Kommentare gerne an info@tc-world.com. Die sammele ich dann und speise sie gelegentlich in den Text ein. Danke. Bei dem Telefunken Concertino, der zu Beginn der Geschichte zu sehen ist, handelt es tatsächlich um das Original, das meine Mutter 1954 gewonnen hat. Die rote Farbe ist natürlich unverzeihlich, aber  der Tatsache geschuldet, dass das Gerät jahrelang zum Bühnenbild des Zungenschlags gehörte (corporate identity: rot.) Ich habe es immer noch, es ist jetzt über siebzig Jahre alt.