Die Violetten

Banaler Wunsch: Eine Jacke oder ein Hoodie in lila, das wär’s mal, tragen nicht viele. Der RAL-Farbenkatalog bietet eine breite Palette „violett“: Rotlila (4001), Rotviolett (4002), Erikaviolett (4003), Bordeauxviolett (4004), Blaulila (4005), Verkehrspurpur (4006), Purpurviolett (4007), Signalviolett (4008), weiter unten tauchen Violettblau und Telemagenta auf. Ob die Deutsche Telekom für diesen Namen bezahlt hat?

In den Läden: Fehlanzeige. Selbst im Netz nirgendwo etwas Ansprechendes, weder Rotlila noch Blaulila, und schon gar kein Verkehrspurpur. Man fragt sich, wer sich all diese poetischen Namen ausdenkt, wurde das schon irgendwo einmal gewürdigt? Rotlila wäre mir am liebsten mit seiner Strahlkraft, aber bei einem derart überschaubaren Angebot darf ich wohl nicht wählerisch sein. Komme ins Grübeln: Es gibt doch Sportvereine, die lila spielen, dass ich da womöglich im Merchandising etwas auftreibe? Der VfL Osnabrück fällt mir als erstes ein. Zwar gehöre ich nicht zur Fraktion der notorischen Osnabrück-Basher, die die Stadt zum Bielefeld des südlichen Niedersachsens herabwürdigen, ich habe vorwiegend gute Erinnerungen und Erfahrungen, aber so weit reicht die Liebe dann doch nicht. Tennis Borussia, eine vage Erinnerung an die Siebziger Jahre. Aber hey, ich würde niemals irgendetwas anziehen, was mit dem Begriff Tennis assoziiert werden könnte. Wenn ich mich nur an die geckenhaften Lacosteheinis der Achtziger erinnere … Wie wäre es mit Erzgebirge Aue – beherzter Club, aber die reden alle so komisch dort. Exotisch, aber dann doch nicht exotisch genug. Der AC Firenze kommt mir in den Sinn. Italien zu verklären ist für die meisten eine leichte Übung. Aber no, grazie, bin nicht annähernd italophil. Mit Florenz verbindet mich: niente. Andere Sportarten? Die Huskies kämen in Frage, das Footballteam der University of Washington. Hm. Schon ein bisschen zu abgelegen, obwohl Seattle meine adoptierte Hometown für den gesamten Westen der USA ist. Aber eh: Footballklamotten, so originell ist das nicht.

Wenig später springt mir Uli Hesse von 11 Freunde bei, wohin ich die Geschichte gemailt habe: „Wenn du noch mehr Merch in Violett suchst, können vielleicht der FC Toulouse, Perth Glory und Real Valladolid helfen. Ein feuchter Hipster-Traum wäre auch etwas von Kyoto Sanga.“ Das ist zwar hilfreich, aber auch mit diesen Clubs verbindet mich: Nichts.

Das kann doch nicht so schwer sein, „die Farbe Lila“ ist immerhin die einzige, die es zu einem eigenen Film gebracht hat, 1986 mit elf Oscar-Nominierungen übrigens, null Trophäen. Nicht unsympathisch. Gut, auch Rot, Weiss und Blau sind nacheinander von Krzysztof Kieślowski verfilmt worden („Trzy kolory“), aber das war’s dann weitgehend. Wie schaut’s denn beim Ösi aus im Bereich „körpernahe Dienstleister“? (Ein Wortkonstrukt, das wir natürlich einer gewissen Pandemie zu verdanken haben.) Wien hat sich zu meiner eigenen Überraschung in den letzten Jahren zu einer meiner Lieblingsstädte gemausert, wahrscheinlich wegen der unglaublich guten Serien. Die trauen sich was, sind nicht ganz so harmoniesüchtig wie die Deutschen. Mir ging es beinahe so wie einer Zuschauerin, die sich nach Ansicht meines Italienprogramms damals dergestalt geäußert hat: „Da kriegt man ja gegen seinen Willen Lust, nach Italien zu fahren.“  Also trägt womöglich einer der großen Wiener Clubs – Rapid, Admira oder Austria – lila? Schnell gegoogelt, aha, schau an, der FK Austria, das sind die Violetten. Aber darf man das so einfach, geht sich das aus, wie man dortzulande sagt, wäre das der richtige Club für mich? In Berlin und Genua muss man genauer hingucken: Hertha und Sampdoria pfui, Union und Genoa hui. HSV und St. Pauli, dieselbe Kiste. Was wäre also der richtige Pick für Wien?

Wenn schon, denn schon: Ich versuche, mich kundig zu machen und bestelle erst einmal die Fußballfibel von Clemens Zavarsky. Schon im Prolog auf Seite neun fliegen mir Vokabeln wie „verzweifelte Liebe“, „…eine Welt voller Leid und Traurigkeit“ um die Ohren, na bitte, da kenne ich mich aus. Das Klagelied endet mit dem Satz „… und Sie werden am Ende voll bitterer Erkenntnis über das eigene Sein vielleicht trotzdem den einen oder anderen Schnaps brauchen!“ Das sind vertraute Komponenten, auch Schnaps ist mir geläufig. Ich bin Fan von Eintracht Trier und somit hart im Nehmen, habe das gelegentlich schon als „Sterbebegleitung“  beschrieben, aber tatsächlich ist es ein Elend, seit Jahren hat man sich in der fünften Liga häuslich eingerichtet. Trier ist Bischofssitz, ein ehemaliger Trierer Bischof ist mittlerweile Kardinal, das Kardinalspurpur soll angeblich an das Blut der Märtyrer erinnern, und im übertragenen Sinn sind Eintrachtfans das auch, Märtyrer. Bayern-Fan kann jeder Depp, auch das „Pöhler“-Dortmund mit seinem Pseudo-Malocher-Image ist keine komplizierte Übung.

Die Austria wäre erst einmal kein Kardinalfehler. Nur: Wäre das nicht alles ein wenig zu bemüht, aufgesetzt, an den Trikots herbeigezogen? Logisch, aber wurscht. Studiere weiter: Rapid war immer eher ein Arbeiterclub – was habe ich mit der Arbeiterschaft zu tun? Ebenso wenig wie die SPD, und da bin ich immerhin Mitglied. Weiter: Peter Stöger ist Trainer. Cooler Typ, hat sogar das exzentrische Köln überlebt. Stöger hat die Austria mindestens so oft trainiert wie Huub Stevens den FC Schalke 04. Jetzt wird’s interessant, die prominenten Fans: Wolfgang Ambros (zweimal live gesehen), Josef Hader (feiner Kerl), Peter Simonischek, David Schalko (beide finde ich wirklich gut). Passt. Die Merch-Abteilung offeriert eine schöne Jacke in violett, (gut, leider signalviolett, aber nebbich), das Logo FAK (sicher auch im englischsprachigen Raum ein Renner) ist kreisrund mit unaufdringlicher Typographie, dezent über dem Herzen platziert. Umgehend bestellt. Passt  – hoffentlich. Und wenn ich schon gerade dabei bin: Mein bisheriger – ebenso willkürlich erkorener – Lieblingsclub SV Mattersburg wurde im Sommer aufgelöst. Insolvenz. Hab ich einmal spielen sehen, blamable Partie, 0:4 in Innsbruck gegen Wacker, die dann trotzdem abgestiegen sind. Es gab sogar richtig Krawall nach dem Match. Wieso eigentlich  Mattersburg? Vielleicht, weil die Stadt so klein war, die alte David vs. Goliath-Ge­schich­te.

Dennoch, es bedarf durchaus weiterer erhellender Einblicke: Die Austria verfügte in den Anfangsjahrzehnten nie über ein Vereinsheim am Sportplatz, sondern residierte sozusagen im Kaffeehaus. Klingt nach Klischee, scheint aber den Tatsachen zu entsprechen. Auch das würde passen, ich bin buchstäblich im Café groß geworden, die ganze Verwandtschaft betrieb welche. Habe später die Seiten gewechselt und im Café einen kompletten Roman geschrieben. Vom Kaffeehaus jedenfalls wickelten die Austrianer ihre Amtsgeschäfte ab, und mit der Zeit ergaben sich zwangsläufig engere Kontakte zu Künstlern und Wissenschaftlern. Nicht der schlechteste Umgang. Rauflustig jedenfalls sind die Austrianer nie gewesen, selten kam jemand mit einem „Veilchen“ daher, obwohl es farblich nicht unpassend gewesen wäre.

Wenig später heißt es in Zavarskys Buch, das nebenbei eine vorzügliche Zeitreise ins Wien des ausgehenden 19. und eingehenden 20. Jahrhunderts liefert, es sei schwer, das Wiener Publikum zu begeistern. Das wiederum kann ich aus eigener Erfahrung unterschreiben, die ebenfalls mit Fußball zu tun hat, aber nicht nur. Der hat mich in meiner künstlerischen Tätigkeit häufig mit seinen geschäftsschädigenden Aspekten ausgebremst. 17. Oktober 1979, mein erster Kabarettauftritt in Österreich. Abfahrt Trier gegen sechs Uhr in der Früh, Ankunft Wien achtzehn Uhr, ohne IC, geschweige denn ICE oder Railjet, damals reiste man selbstverständlich ohne Rollkoffer, ohne Handy, dafür mit Halt in Attnang-Puchheim. Rechtzeitig war ich da, hatte aber nicht das EM-Quali­fikationsspiel der Österreicher in Glasgow auf dem Schirm, das entscheidende Match (Endstand 1:1), also wurde bei mir im Theater gar nicht erst angepfiffen. (Auch den Schirm als solchen gab es noch nicht.) Einen Tag hatte ich dann frei, Mitte Oktober in Wien, das ist gefühlter November, das Hotelzimmer direkt über der Straßenbahnhaltestelle trug nicht wesentlich zur Stimmungsaufhellung bei. Es gibt Momente, in denen man mit seiner Berufswahl weniger einverstanden ist. Was käme sonst in Frage? Es geht auch anderen Berufsgruppen so, selbst bei der Straßenbahn. Wie hatte gleich Wolfgang Ambros vor gar nicht mal allzu langer Zeit gesungen? „Schaffner sei / Des woar amoi wos / Die Zeit is vorbei / Des is des Schaffnalos.“ (So steht der Text im Netz.) Ich habe es dann trotzdem noch eine ganze Weile ausgehalten, dreiundvierzig Jahre im Kabarett, des woar amoi wos.

Am nächsten Abend dreißig Besucher im Z-Club, der irgendwie mit einer Sparkasse zusammenhing, was ich per se schon befremdlich fand. Noch befremdlicher allerdings, dass sich in der Pause fünfzehn von ihnen verabschiedet hatten. Das Publikum zu halbieren hatte ich bis dato nicht geschafft, aber ich war ohnehin neu im Geschäft, und ich denke, ich war damals nicht besonders gut und hatte wahrscheinlich nicht annähernd die richtigen Themen für die Wiener. Was ich damals noch nicht wusste: Als Piefke-Ka­ba­rettist kriegt man da sowieso kein Bein auf den Boden, schon Bayern haben Probleme. Es sei denn, man hat längere Sequenzen über Körperflüssigkeiten im Programm, Blut, Eiter, Sperma und, selbstverständlich, über den Tod. Bei mir hat es nur zu Wien, Lienz, Graz, Innsbruck und Ried gelangt, Attnang war nicht dabei, ebenso wenig wie Puchheim.

Die Eintracht aus Trier und die Austria, da liegen Welten dazwischen, sie passen nicht wirklich zusammen, das wäre wie eine Städtepartnerschaft zwischen Los Angeles und Mattersburg. Ein so professionell wie traditionell Heimatloser passt überall hin, oder im Umkehrschluss halt nirgendwohin. Zeit für mein Lieblingszitat von Alfred Polgar, ein Wiener bekanntlich. Auf die Frage, wo er sich denn am liebsten aufhielte auf der Welt, gab er zur Antwort: „Überall a bisserl ungern!“ Heimat lässt sich längst faken: In Deutschland darf man sich sein Autokennzeichen nach seinem eigenen Gusto aussuchen. Wer also des Glücks teilhaftig gehen durfte, seinen Lebensmenschen im Landkreis Anhalt-Bitterfeld kennenzulernen, wird sich mit Freuden das Schild mit den Buchstaben ABI ans Auto haften. Tolle Sache.

Die Austria wäre folglich eine gezielte Zufallsbekanntschaft, wenn man so will, aber wer sagt denn, dass sie nicht mein Herz erobern und bald schon zu meinen Favoriten zählen kann? Dort spielen sie eh schon, also im Bezirk Favoriten, in der „Generali-Arena“. Gut, Generali, das gibt fünf Punkte Abzug, auch die Investorengruppe weckt nicht eben Begeisterung, aber sonst: Schau­mermal, vielleicht wird das ja was mit uns beiden. Derzeit dümpelt man im Mittelfeld, also unter dem Strich, finanziell sieht es eher dunkelviolett aus, also düster, die Insolvenz droht, der Ausverkauf –

eine gute Phase, ins Verehrungswesen einzusteigen, Tabellenspitze wäre eher abschreckend, erfolgreich kann jeder – ich interessiere mich ja auch nicht für Hitparadentitel. Womöglich nur eine einseitige Liebe, aber auch das Phänomen ist mir natürlich nicht unbekannt.

Gerade ist die Jacke gekommen. Aber wie angegossen. Der Stöger Peter allerdings hört zum Saisonende auf.