Schweden per Interrail 2023

Schweden 2023

 

Och så man ju hå nagra stunder att bara sitta och glo också.

Astrid Lindgren

 

 

Meine erste schwedische Phase hatte ich mit sieben, Bullerbü und Pippi Lang­strumpf, schon klar. Da ging es immer turbulent zu, aber Frau Lindgren stand stets auf der Seite der Kinder, das war der große Unterschied zu unserem realen Leben in den Fünfzigern und Sechzigern. Die Welt in Schweden schien heiler zu sein. Es gab schon Verbrechen und Ungerechtigkeiten, allein Kalle Blomquist, der Meisterdetektiv, musste drei Fälle lösen, und ohne Verbrechen brauchte es keine Detektive. Trotzdem fühlte ich mich sicher dort, Bullerbübücher hüllten mich in einen schützenden Kokon. Keine Ahnung, wann es die ersten Bilder dazu gab, aber die Farbe vieler schwedischer Häuser ist wahrscheinlich ausschlaggebend dafür, dass ich in einem Reihenhaus wohne, gestrichen im sog. „Falunrot“. Über die zweite schwedische Phase schweige ich mich besser aus, die hatte mit Frida von ABBA zu tun, die ja eigentlich Norwegerin ist … – geschenkt. Eine Norwegenphase, ich nannte es Fimmel, hatte ich nie, aber eine gewisse Anfälligkeit für „Sverige“ kann ich nicht leugnen, also: auf nach Schweden.

Auf dem DB-Portal sind die Züge nach Kopenhagen grundsätzlich mit dem Vermerk „Hohe“ bzw. „Außergewöhnlich hohe Auslastung“ vermerkt. Die Züge werden ab Hamburg durch das ganze epische Schleswig-Holstein geleitet, wo man auf der Hinreise immerhin einen Stopp in Schleswig eingerichtet, vor allem, damit die Bahnpolizei zusteigen kann. Bei der Rückreise hat man sich nicht einigen können, wo die Beamten auf dänischen Gebiet zusteigen sollen, was verständlich ist: Deutsche Uniformen sind dort seit 1940 einfach nicht gerne gesehen. Im Sommer 2023 verkehren zudem die ollen Dieseltriebwagen vom IC3, oft fehlt ein Waggon, und die Züge sind in einem armseligen Zustand. Diesel, 2023! Noch dazu von Bombardier gebaut, bei denen ja nicht nur der Name ein Problem ist. Neue Wagen sind von der DB noch nicht zugelassen, irgendwann sollen hier Talgos verkehren, aber generell sei die Frage erlaubt: Haben die Dänen sonst keine anständigen Züge? Wenn man sich auf dem im übrigen sehr schönen Kopenhagener Hauptbahnhof umschaut, kann man rasch diesen Eindruck gewinnen. So ganz will es mir nicht einleuchten, dass die Dänen im World Happiness Index stets die vorderen Plätze einnehmen, und da haben wir noch nicht übers Essen gesprochen.

Wenig ansehnliches Rollmaterial, Riffelmuster, vorne und hinten mit wulstigen Gummipuffern, die aussehen wie aus einer riesigen Zugwurst herausgeschnitten. Noch etwas: Bisschen sehr viel Zug für so wenig Türen. Da braucht es Zeit, um rein- und rauszukommen. Ständig klappert, rödelt oder rattert irgendwas, entweder die Gepäckablagen oder die Türen zwischen den Abteilen, die sich nur mit Verrenkungen öffnen lassen, gerne wird man einmal eingeklemmt. In Padborg vergisst die Zugbegleiterin, die Toiletten wieder aufzusperren, die verrammelt wurden für den Grenzübertritt, was ihr erst in Kolding wieder einfällt. Die Abteile sind runtergerockt, das Gegenteil von „Hygge“ und bieten grundsätzlich zu wenig Platz. Kein Bistro auf der etwa fünfstündigen Reise, nur ein wandelnder Seven-Eleven-Shop. Gut, der Kaffee in der ersten Klasse ist gratis. Kaffee?

Bei uns wird immer gejammert, es würde zu wenig in die Bahn investiert. In Dänemark gewinne ich den Eindruck: Da wird überhaupt nichts investiert, alle Gelder wurden wohl umgeleitet auf die Fehmarnquerung. Oder sie haben sich bereits bei der „Øresundsbanen“ verausgabt? Die hat sicher einige Hundert Milliarden Øre ver­schlungen. (Aber, um das gleich vorwegzunehmen: Sehr viel besser wird es in Schweden nicht.) Trotzdem, der Øresundtåg ist immer ein Erlebnis, das alle Mü­hen rechtfertigt, selbst die dänische Station Tårnby, in der die Tauben das Regi­ment übernommen haben, und die mit ihrer finsteren Grundstimmung an den Bahnhof Friedrichstraße zu DDR-Zeiten erinnert. Leider ist schon am Flughafenhalt in Kastrup Endstation, der Zug bleibt liegen wegen eines “technischen Fehlers”, sie brauchen fünf Minuten, die Türen zu öffnen, ich darf umsteigen in einen Wagen von Skånetrafiken, deren Züge hübsch anzusehen sind, in schokoladenlila, aber leider ohne 1. Klasse. Der Zug ist bumsvoll, ich sehe praktisch nichts und muss mir daher Bilder aus der Serie „Die Brücke“ ins Gedächtnis rufen. Dankenswerterweise haben sie die Heizung angelassen, es ist Ende Mai. In Hyllie muss ich umsteigen, kurz vor Svarte gesellt sich das Meer zum Gleis. Der nächste Zug ist benannt nach Holger Crafoord, dessen Firma die künstliche Niere zur Marktreife entwickelt hat.

Henning Mankell muss eine Riesenfantasie besessen haben, um so viele spektakuläre Verbrechen in einer so lauschigen Stadt wie Ystad ansiedeln zu können. Samstagabend – hier ist vor allem die Hose tot. Auch am Pfingstsonntagmorgen wirkt die Stadt am Stortorget wie ausgestorben, hoffentlich wurden sie nicht alle abgemurkst. Noch etwas ist anders im Vergleich zu den Neunzigern: So viel Leerstand gab es früher sicher nicht. Da ist Ystad ganz europäisch, auch wenn man sich hier natürlich fragen muss, ob nicht einfach ein Großteil der Bevölkerung gewaltsam dezimiert worden ist.

Schweden war Jahrzehnte lang sozialdemokratisch geprägt, mit einem gehörigen Schuss Protestantismus, empathisch, fürsorglich, mild – man fragt sich, wieso es ausgerechnet hier zu derart exzessiven literarischen Gewaltausbrüchen kommt. Reine Kompensation? Oder ist die Fallhöhe generell größer, wenn man brutale Geschichten in einer Inga-Lindström-Deko ansiedelt? Einerseits gibt’s im Städtchen eine „Harmonigatan“, andererseits haben die Gewaltstatistiken in den letzten beiden Jahrzehnten ordentlich zulegt, seit 2013 steigt die Mordrate, zwölf pro eine Million Menschen werden Opfer von Gewaltverbrechens, in Resteuropa sind es nur acht. Dienen die Romane womöglich als Gebrauchsanleitung? Nein, es geht eher um Bandenkriminalität, u.a. weil die Gangs von Malmö und Kopenhagen seit der Brückeneinweihung 2012 zusammenarbeiten und besser ausgerüstet sind als früher, man kommt wesentlich leichter an AKW 47 und Handgranaten heran. Laut Schätzung eines schwedischen Kriminalreporters gibt es derzeit über 350 kriminelle Vereinigungen im Land. Von den anderen weniger gemütlichen Aspekten Skandinaviens kriegt man als Interrailer naturgemäß wenig mit: Populistische Migrationspolitik, Ausländerfeindlichkeit usw. Die Konservativen geben in Dänemark den Ton an, hier regieren seit den letzten Wahlen die rechtsgerichteten Schwedendemokraten mit.

 

 

Ystad ist schnuckelig für eine Stadt von 30.000 Einwohnern, man wallandert gerne durch die Straßen und Gassen, vorbei an geduckten Häuser in bunten Farben, die App, mit der man Schauplätze abgrasen kann, lade ich mir nicht eigens herunter. Das Hotel liefert den Beweis, wie man auch aus einer Abstellkammer halbwegs benutzbaren Wohnraum schaffen kann. Ich möchte mich eigentlich nur auf den Vorgang des Reisens konzentrieren, nicht das Besichtigen steht im Vordergrund, sondern Fahrpläne, Routen, Hotels etc. – zudem sollte man fortgeschrittenen Alters seine Sinne beisammenhalten und sich 24/7 im Klaren darüber sein, dass die Reise die Regie übernimmt. Zum Glück muss ich mich nicht über die einzelnen Zielorte ausmehren, darüber gibt es Fachliteratur, Reiseführer und Apps.

Gerade erscheint über einer Tür die Laufschrift „Dörrarna slängs“, meine App übersetzt mir sogleich „Die Türen werden weggeworfen“. Der Lokführer steigt kurz aus, hat ein Mikrofon mit einem sehr langen Spiralkabel in der Hand und kommuniziert mit der Zugbegleiterin im hinteren Zugteil. Endlich werden die Türen weggeworfen und es kann losgehen. Umsteigen in Malmö Central, und ich kann die Schweden nur beglückwünschen zu ihrem großen Vertrauen in den bargeldlosen Zahlungsverkehr, als würden nicht überall auf der Welt begabte Hacker daran arbeiten, das Abendland mit gezielten Angriffen eines schönen Tages einfach abzuschalten – und dann Godnatt, Abendland. Wahrscheinlich bin ich altmodisch, aber mir kommt es immer noch unangemessen vor, für eine Zimtschnecke meine Kreditkarte zu zücken. Aber falls ich eines Tages hier ein Verbrechen begehen sollte, wird mich die Kommissarin fragen können: Was haben Sie am Pfingstsonntag in der Centralstation in Malmö um 12:31 Uhr zu suchen gehabt?

Ein Blick auf die Anzeigetafel zeigt mir: Die Ausfall- und Verspätungsquote ist nicht eben gering. Da weiß ich noch nichts davon, dass für meinen Zug nach Växjö bereits in Hässelholm Endstation ist, wegen Bauarbeiten. Das scheint in Schweden an der Tagesordnung zu sein, denn auf alle offiziellen Wegweiser im Bahnhof hat man das schöne Wort „Ersättningstrafiken“ geprägt. Zunächst geht es zügig voran, hügelige Landschaft, Wattebausch-auf-Glasplatte-Wolken. Mit mir nur zwei Einzelreisende, beide schauen sich Filme an. Vielleicht kennen sie die Strecke in- und auswendig, Tatsache ist, dass sich die meisten Menschen nicht mit ihrer Umgebung befassen: Irren auf Bahnsteigen umher, setzen sich in die falsche Klasse, manche absichtlich, ignorieren Umwelt und Mitmenschen und versuchen vielleicht, sich alles vom Leib zu halten. (Pendler sind entschuldigt.) Ich bin da eher versehentlich buddhistisch veranlagt: Der Weg ist das Ziel. Mein Ziel heute heißt keinesfalls Hässleholm, aber genau hier muss ich raus, um in einen Bus umzusteigen, Höchststrafe, Schienenersatzverkehr auch hier, Baustelle.

Jetzt müsste sich halt der Fahrer auskennen, er verfährt sich binnen einer Stunde genau dreimal, findet die Bahnhöfe nicht, verfranst sich auf Nebenstrecken. Überhaupt ist er der schlechteste Busfahrer, den ich je erleben durfte, Gasgeben-Brem­sen-Gasgeben-Bremsen, ich bin froh, dass ich nichts gegessen habe. Um mich herum eine mutmaßlich indische Mutter mit sechs Kindern, die alle höchstens ein Jahr auseinanderliegen: bewundernswert, wie relaxed sie das handhabt und wie die Älteren die Jüngeren umsorgen. So schaukeln wir nach Älmhult, der Welt-IKEA-Hauptstadt. Entgegen meiner App bietet der Zug nach Växjö die 1. Klasse, sozusagen zur Belohnung, und für den Rest der Strecke lasse ich Birken wirken, ohne möglichst an das gewöhnungsbedürftige Birkenhaarwassers meines Onkels zu denken. Ein Gutes hat die Busfahrt gehabt: Es ist so schön, wenn es rum ist. Dazu durfte ich erstmals das legendäre Warnschild mit dem Elch in freier Wildbahn erleben.

Zwischendurch ein paar Fakten. Zunächst die schlechte Nachricht für alle Fußballfans und Junggesellinnenabschiedsfeierwütige: Alkohol an Bord zu konsumieren ist verboten! Das Reservierungssystem in Schweden ist schwer zu durchschauen, vor allem wenn man als Interrail-Reisender unterwegs ist. Dieser Satz von meinem Gewährsmann beim vorzüglichen Freiburger Bahnreisebüro Gleisnost ist mir im Gedächtnis geblieben: „Die schwedische Bahn hat mich Jahre meines Lebens gekostet!“ Dabei ist er Schwedenliebhaber. Das System „Vagnsordning“ ist verbesserungsbedürftig, denn da steht lediglich die Reihenfolge der Wagen, weitere Informationen gibt es keine. Das vermehrte Auftreten von giftgrünen Westen mit der Aufschrift „Kundvärt“ am Bahnsteig verheißt selten etwas Gutes.

 

Das Hotelzimmer in Växjö ist so weit von der Rezeption entfernt, dass ich mich frage, ob ich mich überhaupt noch in Schweden befinde. Nach Ystad der nächste Klaus­trophobie-Workshop: Es ist also noch nicht alles durchgestylt im Norden, das hat ja auch etwas Beruhigendes. Växjö ist ein erstaunlich freudloses Städtchen, einzig das „Kafe de Luxe“ reißt es raus, ein anheimelndes Plätzchen in einer zugigen Stadt. Dort werden sie sich sicher gewundert haben über das vermehrte Aufkommen deutscher Touristen seit 2012, allesamt angezogen von den Krimis von Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson. (Zum Glück gehe ich regelmäßig als Amerikaner durch.) Es ist immer dasselbe: Hanover, New Hampshire besuchte ich wegen Bill Bryson. Missoula, Montana wegen James Lee Burke und Richard Ford, und in den Straßen von Växjö fahndete ich vergeblich nach Herrn Voosen und Frau Danielsson. Einzig Mankell in Ystad ist entschuldigt.

Der Höhepunkt gleich schon beim Aussteigen: Der Bahnhof, der in Skelettbauweise errichtet wurde, licht und hell, atemberaubend schön, 2021 eröffnet, die weltweit wohl einzige Station, die auch ein Rathaus enthält. Dem bzw. mir gönne ich vor Abreise eine halbe Stunde extra. Überhaupt ist der Bahnhof als Sehnsuchtsumschlagplatz ein wesentlicher Bestandteil einer Zugreise, mit seinen atemlosen Pendlern, zielstrebigen Zeitgenossen, verlorenen Kreaturen, mit den stürmischen Begrüßungen oder herzzerreißenden Abschiedsszenen, vor allem, wenn man allein reist und einen das alles nicht tangieren muss. Das sollte man sich keinesfalls entgehen lassen, die Zugfahrt gibt es als Bonus, mit unablässigen Bildern aus dem Zufallsgenerator, die einen leichten Rausch vermitteln können und womöglich Endorphine aktivieren. Mit 144 Stundenkilometern durch Läng­hem zu brausen, das hat was. Dazu die fremden Klänge. Zuhause ist der sprach­liche Alltag erlebnisarm, unterwegs ist das Leben mysteriöser, ohnehin kann es erholsam sein, wenn man etwas mal nicht versteht, Zugansagen z. B., von denen man höchstens ein paar Ortsnamen mitkriegt, in Schweden nebenbei keineswegs immer, so heisst Göteborg „Chöteboj“.

 

Der Zug dorthin entpuppt sich als gute, alte Eisenbahn, mit richtiger Lok, alles in schwarz, sogar die Waggons, sieht elegant aus. Innen rührend altmodisch, mit Armlehnen und Tischen aus richtigem, polierten Holz, womöglich Kirsche, die Tische allerdings derart wackelig, dass man nicht drauf schreiben kann. Draußen Seen, Teiche, Tümpel, Pfützen. Es folgt der Nationalpark Store Mosse mit seiner ausgedehnten Moorlandschaft. Orte wie Gnosjö (ob Erik Satie je hier war?), Värnamo, Borås. Am Zug gibt es rein gar nichts zu beanstanden, außer dass es ab Rävlanda nicht mehr weitergeht, aber dafür kann die Lok nichts, wohl aber die des Güterzugs davor, der auf der Strecke liegengeblieben ist. Warten auf einen Güterzug, wie in den USA. Zum Glück übersetzt mir meine Nachbarin alle Durchsagen, mittels derer man im Zehn-Minuten-Takt erfährt, dass es keine neuen Informationen gäbe. Hat sich was mit dem Reiz fremder Durchsagen. Erwäge nach einer Dreiviertelstunde, meinen Zweitwohnsitz hierher zu verlegen. Rävlanda heißt Fuchsland auf deutsch, Hasen sind keine zu sehen. Drei Stunden später, nachdem ich vom Busbahnhof zum Hauptbahnhof gefunden habe, entnehme ich der Anzeigentafel, dass die Strecke noch immer nicht freigegeben ist.

Dieser Busfahrer kennt sich wenigstens aus. Die Frau mit dem Kinderwagen hat allerdings das Nachsehen, Radfahrer sind zum Glück keine dabei. Im Hotel in Göteborg erhalte ich ein Upgrade für ein größeres Zimmer, das ich mir irgendwie verdient habe, frage mich allerdings, wie klein das ursprüngliche gewesen wäre. Oben­drein liegt das Zimmer verkehrsgünstig, sozusagen in die Straßenbahnhaltestelle vor dem Hauptbahnhof integriert.

 

High Noon um 19:10: Das Derby, aber unter anderen Vorzeichen: Hier spielt der aktuelle Meister BK Häcken gegen den Rekordmeister IFK, der allerdings auch nach diesem 10. Spieltag auf dem Relegationsplatz der „Allsvenskan“ verharren muss. Aber die Saison ist ja noch jung. Das Spiel war in dem Moment ausverkauft, als es auf den Markt ging. Bei 6.500 Sitzplätzen geht das recht schnell. Bei Betreten der nicht unbedingt schmucken Bravida-Arena im Stil Bonsai-Brutalismus läuft „Black Friday“ von Steely Dan. (Heute ist Montag.) Danach irgendwas von First Aid Kit. Kein schlechter Einstieg. Eine halbe Stunde vor Spielbeginn haben sich die IFK-Fans eingesungen, da ist dann egal, was läuft. Kann sein, dass sie nur den harten Block geschickt haben, viele schwarzgekleidete, obwohl die Farben Blau-Weiss sind: Blåvitt ist der Spitzname. Sie bilden eine Wand, vielleicht, weil der Club mit dem Rücken zur selbigen steht. Ein Fan schwenkt eine überdimensionale Fahne mit dem Konterfei eines gewissen Åke, der 2023 gestorben ist und der größte Enthusiast von allen gewesen sein muss. RIP.

 Häcken trägt schwarz-gelb, zwei Tage nach dem Untergang der Borussia in der Bun­desliga eher traurige Farben. Der Verein scheint aber guter Dinge zu sein, die Zuschauer familienorientiert, Eltern mit Kindern, die unterschiedlichen Farben, hier balu, dort gelb, aber das Gros der Besucher trägt Kappen in leuchtendem Gelb. Sie lassen sich Zeit, trudeln erst so nach und nach in der Arena ein. Die Häcken-Hymne von Ida Redig ist ein bisschen rührend, ein Schlager, von Hisingen in die Zukunft, „Från Hisingen till framtiden“, wobei Hisingen die Insel ist, auf der sich der Großteil von Göteborg ausgebreitet hat. Eine Insel – das erklärt die Möwen über dem Stadion.

Die IFK-Fans grölen unterdessen von den „Ängelar“, Engel ist der zweite Kosename des Vereins, und wenn das Engel sein sollen, ist es im Himmel vielleicht doch nicht ganz so öde wie befürchtet. Beim 1:0 für Häcken singen sie unbeirrt weiter, bei den Häckenfans zähle ich Stücker vier Bengalos, beim Ausgleich IFK-Inferno, nach der Pause aber zeigt der Meister seine Klasse und zieht u.a. dank seines Torjägers Benié Traoré auf 4:1 davon. Die IFK-Fans stört das nicht weiter. Ein munteres Spiel insgesamt, das aber auch zeigt, warum Schweden derzeit in der Fußball-Weltrangliste Platz 22 belegt, sogar noch acht Plätze hinter Deutsch­land.

Am nächsten Morgen wird die Abfahrt kommentiert angekündigt. „Yttre Tåg“, was lt. meiner App angeblich „Externer Zug“ bedeuten soll. Netter Versuch. Tatsächlich meinen sie, dass der Zug weit draußen am Ende des Bahnsteigs hält, fast schon in Mölndal. Immerhin ist es ein Zug, der sich auch pünktlich anschleicht. Zum ersten Mal ist die knapp bemessene 1. Klasse voll. Als Interrail-Reisender ohne Reservierung sollte man nur sitzen, wo über dem Sitz „1. Klass“ steht, „Kan vara reserverad …“ taugt nicht. Manche Züge muss man, andere kann man reservieren. Geht nicht am Bahnhof, denn Schalter findet man nur noch selten. Im „Øresundtåg“, der sein Herrschaftsgebiet bis Göteborg und Kalmar ausgedehnt hat, gibt’s die 1. Klasse in den Wagen 11 und /oder 21.

 

Fährt man aus dem Helsingborger Untergrund die Rolltreppe hinauf, findet man auf der linken Seite des Espresso House und auf der gegenüberliegenden rechten Seit noch ein Espresso House. Der Café Cortado, ich habe es getestet, hinterlässt links wie rechts einen leicht bitteren Nachgeschmack. Die Kette Wayne’s ziehe ich vor, aber die ist nicht so präsent. Wenn wir schon beim Thema Geschmack sind: Leider ist der Mittelscheitel derzeit die angesagte Frisur unter Schwedens Männern, hier sollte der Gesetzgeber einschreiten. Überhaupt ist ein gewisses Schnöseltum weit verbreitet, ob vielleicht Prinz Daniel der Rohling für all diese Burschen war?

Sonst ist an Helsingborg nichts auszusetzen, eine feine, lebhafte Stadt mit begrüntem Parkhaus am Bahnhof, und generell, damit keine Missverständnisse aufkommen, gefällt mir Schweden ausnehmend gut, die Menschen höflich und zuvorkommend, und selbst wenn die Bahn ihre Macken hat: Ich mache diese Reise freiwillig, also von wegen bahntraumatische Belastungsstörung, und lerne dabei die Deutsche Bahn wieder etwas mehr zu schätzen. Hinter mir eine Etappe ohne größere Vorkomm­nisse, von Göteborg nach Helsingborg ist es nicht allzu weit. Dringend sollte man sich bei Statens Järnvägar, der staatlichen Eisenbahngesellschaft, überlegen, ob Lund wirklich so ein optimaler Umsteigebahnhof ist: Eng, zu kleine Aufzüge, zu wenig Rolltreppen, ein überschaubares gastronomisches Angebot, die Centralstation wirkt völlig überfordert. Bitte umgehend beim Architekten von Växjö vorstellig werden, tack så mycket.

Booking.com bietet zumindest einfaches Stornieren, aber sie schmeißen einen mit Mails zu, eine davon bzgl. eines elektronischen Check-ins, das mich fünf Minuten kostet – im Radisson ist das System gar nicht anerkannt. Dafür bin ich beim Früh­stück nicht gelistet, obwohl … aber lassen wir das. Hier täte eine bessere Vernetzung dringend Not.

„Englisch? Deutsch?“ fragt der Zugbegleiter, ein Hipster mutmaßlich arabischer Herkunft. Nach meiner Antwort sagt er: „Du bist hier in der 1. Klasse. Die sehe ich nicht auf dem Fahrschein.“ Ich deute auf die 1 ganz rechts. Seine Miene hellt sich auf: „Ich sehe so etwas nicht allzu oft.“ Nie hat es irgendwelche Probleme gegeben, aber die Reservierung wollen sie im Fall schon sehen. An das Ikea-Du muss man sich halt gewöhnen. Auf den Bahnsteigen übrigens rennen die Leute häufiger ineinander, weil sie auf ihr Handy mit der Reservierung starren.

Man sieht es den Zügen mit ihren Puffern kaum an, wo der nach Kristianstad aufhört und der nach Karlskrona anfängt, da muss man schon hinschauen, selbst wenn der Zug kein Hingucker ist. In Hässleholm bedeutet das: Waggonwechsel. Geliebtes Hässleholm, diesmal verlasse ich die Stadt zum Glück mit der Bahn. Allmählich habe ich das Alter erreicht, in dem ich gerne in Fahrtrichtung sitze. In Kristianstad bedeutet das: Sitzplatzwechsel. Raps, Raps, Raps. Findlinge zwischen den Bäumen, Rehe, Hasen. Ab Mörrum bin ich allein im Abteil. Draußen sieht es schon ein wenig so aus, als würde es nicht mehr allzu lange weitergehen. Ich befinde mich nun in der historischen Provinz Blekinge, aber wenn ich das bisher richtig verstanden habe: In Schweden ist so circa jede Provinz historisch.

Karlskrona ist ein Außenposten ganz im Osten, von dem man mit etwas Pech russische U-Boote sichten kann, weshalb die beiden Kanonen im Marinemuseum in östliche Richtung zeigen. Schweden steht in diesen Tagen kurz vor dem Eintritt in die NATO, ein Angriff aus Russland ist so utopisch leider nicht mehr, da kommt dieser Stadt eine besondere Bedeutung zu. So richtig neutral war Schweden nie, wie der Skandinavist Bernd Henningsen behauptet, schon immer hat man mit dem transatlantischen Bündnis kooperiert. Darüber hinaus ist Karlskrona okay, nach einem halben Tag ist man aber lässig durch, es sei denn, man interessiert sich für die Marine und hat an extremen Winden nichts auszusetzen. Die Innenstadt zieht sich über einen Berg, mit an- und absteigender Fußgängerzone. Auf dem Klaipedaplatsen hocken zwei fette Kirchen in aprikosenem Farbton, dazu gesellt sich, ähnlich martialisch, der Tingsrat. Ein eher albernes Ensemble, reine Übertrumpfungsarchitektur. Auf den Cappuccino habe ich mich schon seit langem gefreut, ich habe ihn bereits im Februar 2022 per App bestellt, auf 16:00 sharp in der Rönnebygatan 45, so macht man das heute.

 

Im Bahnhof Karlskrona ein Zug der Gesellschaft „Krösatågen“: Er fährt nach Emmaboda und trägt den Namen „Kristina från Dufvemåla“. Krösatågen, Emmaboda, Kristina från Dufvemåla, das ist pure Poesie. Allerdings handelt es sich bei „Kristina“ um ein Musical von Björn Ulvaeus, vormals ABBA, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass ihm die Zuglinie gehört. Malmö ist die letzte Station in Schweden. Auf der Rolltreppe im Bahnhof eskortieren mich der bullige Schaffner und der Lokführer, die anscheinend jetzt Pause haben, ans Tageslicht.

Ich habe mich auf den Süden beschränkt und die Provinz Skåne nur selten verlassen, es bleiben ergo genug historische Provinzen übrig. Ich habe in verschiedenen „Restaurangs“ dem Scheitern der versteckten Prohibition zugeschaut.  Ystad, Växjö, von Göteborg habe ich ein Fußballstadion gesehen und erlebt, Helsingborg, Karlskrona – mein Favorit ist und bleibt Malmö: Bestes Hotel (Kramer), bester Plattenladen der Welt (Folk å Rock), die „Lilla Kafferosteriet“, wo man auch draußen sitzen kann – aber wozu, da verpasst man ja das Interieur. Dazu ohne Aufpreis ein ausgedehnter Polizeieinsatz mit drei Krankenwagen, Feuerwehr und viel Polizei gleich um die Ecke vom Hotel, auf dem Storatorget befragen die Beamten Passanten, wonach, weiß ich nicht. Vielleicht sind sie auf der Suche nach dem Serienmörder Wieselgren aus Brömsebro. Ein echter Schwedenkrimi jedenfalls. Zum krönenden Abschluss entdecke ich im Hansa-Einkaufszentrum die Astrid Lindgren-Tasse mit dem Spruch vom Anfang dieses Berichts, der auf deutsch „Und dann solltest du auch ein paar Momente Zeit haben, um einfach nur hinzusitzen und zu starren“ bedeutet. Wo sie recht hat … Nirgends funktioniert das besser als im Zug.

Anderntags verlasse ich Schweden unbehelligt. Ich habe das Land trockenen Fußes durchqueren dürfen, sicher nicht die Regel. Die Danske Statsbaner reißen sich diesmal zusammen, pünktlich, freundlich, kompetent, und ein Frühstück gäbe es gratis dazu. Der dänische Zug trägt den Namen von Ernst-Hugo Järegård, einem schwedischen Schauspieler, der bekannt wurde durch die Serie „Hospital der Geister“ des Dänen Lars von Trier. Die Brücke über den Sund hat er gar nicht mehr erlebt. Bis zur festen Fehmarnbeltquerung soll es Stand jetzt noch sechs Jahre dauern. Dann kommt man in drei Stunden von Hamburg nach Kopenhagen und in weiteren 36 Minuten nach Malmö. So richtig eingenordet bin ich noch nicht, ich komme wieder. Der Norden zieht mich auch an, weil ich nicht mehr so hitzebeständig bin wie früher.

Schweden ist teuer, natürlich. Im Nachgang lese ich, dass im Mai die Preise in Hotels und Restaurants um 0,2 bis 0,3 Prozent nach oben gegangen sind, nur weil Beyoncé ihre Welttournee in Schweden begonnen hat, tack så mycket för det också, auch dafür herzlichen Dank.

 

 

© Thomas C. Breuer Rottweil 13. Juni 2023